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Brokdorf: Nicht hinnehmbares Sicherheitsrisiko
In den AKW Brokdorf und Grohnde korrodierten Brennstäbe, zum Teil deutlich stärker als erlaubt. Die Ursache ist seitdem ungeklärt. Gibt es Parallelen zum Skandal-AKW Leibstadt in der Schweiz?
Am 19. Februar 2017 erreichte die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein eine Eilmeldung aus dem AKW Brokdorf: Eon/PreussenElektra hat bei der jährlichen Revision des Meilers ungewöhnlich dicke Oxidschicht-Bildungen – sprich: Korrosion – an mehreren Brennstäben festgestellt. Zulässige Grenzwerte waren deutlich überschritten, selbst bei Brennstäben, die erst ein oder zwei der üblichen vier bis fünf Jahre im Reaktorkern im Einsatz waren. Offensichtlich korrodierten sie an einigen Stellen im Turbogang. Die Ursache für diese Vorgänge im Kern des Reaktors war völlig unklar.
Eon zufolge traten die bislang festgestellten Korrosionsschäden sämtlich am oberen Ende der Brennstäbe auf. Brennstabhüllrohre bestehen aus Zirkaloy, einer sehr korrosionsbeständigen Metalllegierung. Unter den extremen Bedingungen im Reaktorkern kommt es trotzdem zu Korrosionsprozessen, im Normalfall allerdings sehr langsam. Selbst bei fünfjährigem Einsatz der Brennelemente bleibt die Oxidschichtdicke üblicherweise unterhalb der maximal erlaubten 0,1 Millimeter. Im AKW Brokdorf hingegen war sie bei mehreren Brennstäben, die nicht mal zwei Jahre im Einsatz waren, schon deutlich dicker, in einem Fall sogar 0,15 Millimeter stark. Ab 0,16 Millimeter ist nicht mehr gewährleistet, dass die Brennstabhülle dicht bleibt; hochradioaktive Spaltprodukte könnten dann den Kühlkreislauf des Reaktors kontaminieren.
Blackbox Reaktorkern
Die Brennstabhülle ist eine der Barrieren gegen den Austritt radioaktiver Substanzen aus dem Reaktor. Bei zu starker Korrosion kann sie versagen, insbesondere wenn, etwa bei einem Störfall, die Brennstäbe noch höheren Belastungen als im Normalbetrieb ausgesetzt sind. Darüber hinaus sind die unerwartet starken Oxidschicht-Bildungen auf den Brennstabhüllen aber auch ein Symptom eines unbekannten Problems im Inneren des Reaktors. Sowohl das Problem selbst als auch seine Ursache sind bis heute ungeklärt.
Das AKW Brokdorf, das eigentlich nur bis zum 24. Februar 2017 in Revision sein sollte, lag wegen der unerklärten Korrosionen schließlich sechs Monate lang still. Die Atomaufsicht zog den Brennelementehersteller sowie Sachverständige zur Klärung der Vorgänge im Reaktorkern hinzu. „Für die Zukunft muss ausgeschlossen sein, dass sich erneut Oxidschichten bilden, die den Grenzwert überschreiten. Dafür ist ein Verständnis von den Ursachen der Oxidation erforderlich“, unterstrich damals Leiter der Atomaufsicht in Kiel, Jan Backmann. Noch-Umweltminister Robert Habeck (Grüne) schloss ein Wiederanfahren des AKW ohne eindeutige Untersuchungsergebnisse aus: „Erst, wenn die Ursache geklärt und ausgeschlossen ist, dass sich das Problem an anderen Brennstäben wiederholt, kommt ein Wiederanfahren in Betracht.“
Schon 2005 und 2012 war es im AKW Philippsburg-2 zu ähnlichen, aber nicht so starken Brennstab-Korrosionen gekommen. Bei aktuellen Untersuchungen fanden Sachverständige im April 2017 auch an Brennstäben im AKW Grohnde Korrosionsspuren, wie Brokdorf und Philippsburg-2 ein Reaktor vom Typ „Vor-Konvoi“. Die zulässige Oxidschichtdicke von 0,1 Millimetern war in Grohnde zwar noch nicht überschritten. Um die „Sicherheitsmargen“ zu erhöhen, erklärte sich Eon jedoch bereit, die maximale Leistung des Reaktors im folgenden Zyklus auf 95 Prozent zu begrenzen.
Parallelen zum AKW Leibstadt?
Im schweizerischen AKW Leibstadt, am Hochrhein direkt an der deutschen Grenze gelegen, wurden während der jährlichen Revision im August 2016 ebenfalls zahlreiche korrodierte Brennstäbe entdeckt. Mindestens 30 sind massiv beschädigt. Die Korrosionsstellen sind bis zu 25 Zentimeter lang und befinden sich jeweils am oberen Ende der Brennstäbe. Verantwortlich sind nach Angaben der Schweizer Atomaufsicht (ENSI) sogenannte „Dryouts“: Bestimmte Stellen im Reaktorkern wurden so heiß, dass die Brennstäbe dort nicht mehr mit einem Wasserfilm bedeckt waren, weswegen sie so stark korrodierten. Wie und warum es zu diesen Dryouts kommen konnte, die eigentlich gar nicht auftreten dürfen, ist allerdings ebenfalls noch unklar.
Zwar ist in Druckwasserreaktoren wie Brokdorf und Grohnde der Druck im Reaktorkern deutlich höher als in einem Siedewasserreaktor wie Leibstadt. Das Kühlwasser würde folglich erst bei sehr viel höheren Temperaturen verdampfen, weswegen Dryouts hier eher unwahrscheinlich sind. In beiden Fällen ist die Brennstabkorrosion allerdings auf Vorgänge im Reaktorkern zurückzuführen, die niemand erwartet und niemand vorhergesehen hat. Derlei unbekannte und unberechenbare physikalische Mechanismen sind in einem AKW absolut inakzeptabel.
Kritik am Wiederanfahren
Trotzdem genehmigte die Schweizer Atomaufsicht (ENSI) am 16. Februar 2017, ebenfalls nach sechsmonatigem Stillstand, das Wiederanfahren des AKW Leibstadt mit leicht geminderter Leistung – diese Auflage soll erneute Dryouts verhindern. Der für die Atomaufsicht im benachbarten Baden-Württemberg zuständige Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen: „(…) die Frage einer ausreichenden Sicherheitskultur stellt sich schon, wenn physikalische Vorgänge im eaktorkern nicht vollständig bekannt sind und der Weiterbetrieb dennoch zugelassen wird.“ Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD), parlamentarische Staatsekretärin im Bundesumweltministerium (BMUB), unterstreicht: „Es ist aus Sicht des BMUB von großer Bedeutung, die Ursachen für die Schäden an den Hüllrohren restlos aufzuklären.“ Und die atompolitische Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, kritisierte: „Immer noch ist die genaue Ursache für die erhöhte Oxidation ungeklärt. Solange das der Fall ist, darf das AKW nicht wieder ans Netz gehen – auch nicht mit neuen Brennelementen.“
Die unerwartete Überhitzung mancher Stellen im Reaktorkern, welche die Dryouts verursachte, beschäftigt inzwischen auch die Reaktorsicherheitskommission. Denn üblicherweise werden Temperaturverteilung, Neutronenfluss und Kühlwasserströmung im Reaktorkern im Vorhinein am Computer simuliert, um eben solch unzulässige Überhitzungen auszuschließen, die es in Leibstadt offensichtlich gab. Die Dryouts dort sind also ein Hinweis darauf, dass die komplizierten Rechencodes für diese Simulation möglicherweise Fehler enthalten. Die in Deutschland verwendeten Codes aber sind dieselben wie in der Schweiz.
.ausgestrahlt fordert unverändert, dass Eon und die schleswig-holsteinische Atomaufsicht die Ursachen für die unerwartet starken Oxidschicht-Bildungen auf den Brennstäben im AKW Brokdorf eindeutig klären müssen. Denn aus unberechenbaren und unerklärten Vorgängen können unerwartete Gefahren erwachsen und unkontrollierbare Situationen entstehen. Ein AKW, bei dem auch nur die Möglichkeit besteht, dass es im Reaktorkern zu unbekannten oder unerwarteten Reaktionen kommt, die sogar Brennstäbe beschädigen können, hätte nicht wieder ans Netz gehen dürfen.Armin Simon und Angela Wolff
Filmtipp: Das Ding am Deich
Das Ding am Deich
Anfang der 1970er Jahre versetzten die Pläne zum Bau des AKW Brokdorf die Bewohner der kleinen Elbgemeinde in Aufruhr. Der Film zeigt die bewegende Geschichte des jahrelangen, vehementen Protests gegen den Bau.
Fragen und Antworten zu den ungeklärten Oxidschicht-Bildungen an Brennstäben im AKW Brokdorf
Am 14. Juli 2017 erteilt Robert Habeck die Genehmigung für eine erneute Beladung des Reaktorkerns. Die Atomaufsicht habe mittels „akribischer Detektivarbeit“ ein „Ursachenbündel“ identifiziert. Unter der Bedingung, dass Eon das AKW nur mit 95 Prozent seiner Maximalleistung betreibe, die bisher zulässige Maximalgeschwindigkeit beim Herauf- und Herunterregeln halbiere und die Wasserstoffkonzentration im Primärkühlkreislauf erhöhe, ging der Reaktor wieder in Betrieb. Unter diesen Bedingungen, glaubt Habeck, sei eine erneute Grenzwertüberschreitung bei der Oxidation der Brennstäbe nicht zu erwarten. Ob dies wirklich so ist, wird bei der nächsten Revision – im April 2018 – mit Messungen überprüft werden.
Was fordert .ausgestrahlt?
- Eon und die schleswig-holsteinische Atomaufsicht müssen die Ursachen für die unerwartet starken Oxidschicht-Bildungen auf den Brennstäben im AKW Brokdorf eindeutig klären.
- Ein AKW, bei dem auch nur die Möglichkeit besteht, dass es im Reaktorkern zu unbekannten oder unerwarteten Reaktionen kommt, die sogar Brennstäbe beschädigen können, gehört nicht ans Netz!
- Sofortiger Stopp aller AKW und Atomfabriken – es darf kein weiterer Müll produziert werden.
Das Ding muss weg
Neun Infografiken, die deutlich machen: Das AKW Brokdorf ist ein nicht hinnehmbares Risiko und gehört abgeschaltet. Sofort.