- Start »
- Themen »
- Atomunfall »
- Tschernobyl
Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986
In Block 4 des ukrainischen AKW Tschernobyl, nahe der Landesgrenze zu Weißrussland, startet die Bedienmannschaft um 1:23:04 Uhr in der Nacht einen Test. Dabei gerät der Meiler außer Kontrolle: Die Leistung erhöht sich immer weiter, die Notabschaltung versagt, die Kettenreaktion nimmt rasend schnell zu, wegen der enormen Hitze bildet sich Knallgas. Um 1:23:48, nach ganzen 44 Sekunden, explodiert der Reaktor, sein hochradioaktiver Kern beginnt zu brennen und zu schmelzen, die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Der Super-GAU von Tschernobyl ist der bis dahin größte Atomunfall der Geschichte.
2020 - 34 Jahre nach dem GAU brennen in der Sperrzone rund um Tschernobyl die Wälder. Seit Anfang April versuchen über 1.000 Menschen die Brände in den Griff zu bekommen. Atomkraft ist und bleibt ein Risiko.
TIPP: Film und Podcast zur aktuellen Situation
2019 ist ein ARD-Team mit einem Geigerzähler im weißrussischen Sperrgebiet unterwegs. Eine der wenigen Menschen, die das Team dort antrifft, ist die 90-jährige Babuschka Galina. Im Weltspiegel erzählt Birgit Virnich, wie sie sich im Sperrgebiet bewegen, was das Team essen konnte und warum die alte Frau einfach dageblieben ist:
Aktueller Beitrag aus Weltspiegel: Speerzone heute
Während in Deutschland Atomkraft schon fast zur Geschichte zu gehören scheint und eine der zentralen Sprecherinnen von "Fridays for Future" das nur noch aus Erzählungen kennt, setzt Frankreich weiterhin auf die Atomkraft:
Krieg und Atomkraft - 'Spiel' mit dem Höllenfeuer
„Es reicht nicht aus, die Wunden zu verbinden“
Gerhard Keller, 55, Mitbegründer des Arbeitskreises „Leben nach Tschernobyl“ im hessischen Lang-Göns, hilft den Opfern der Tschernobyl-Katastrophe – und streitet dafür, neue Opfer zu verhindern
„Ich bin in Nordhessen groß geworden. Ich war so 16, 17 Jahre alt, als nur 14 Kilometer weiter, in Borken, ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Ein Lehrer von mir war in der Bürgerinitiative. Da habe ich mich auch informiert und gemerkt, wie man so belogen wird, und da fing das an, Brokdorf, Gorleben und diese Stationen.
Das Thema hat mich dann nicht mehr losgelassen und ich habe mich in der Anti-AKW-Bewegung engagiert. 1990 habe ich in Gießen einen Vortrag gehört, von einem Anatolij Artemenko aus Kiew, der hat direkt berichtet von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl. Sein Elternhaus steht dort. Mich hat der Vortrag so beeindruckt und ich fand das so furchtbar, dass ich gedacht habe, ich will da irgendwas unternehmen. Ich bin zu ihm hin und habe ihm gesagt, wenn er mir Adressen von Menschen gibt, die evakuiert worden sind, dann könnte ich versuchen, Hilfe zu organisieren. Ich wollte nicht etwas Anonymes machen, sondern wissen, die Hilfe geht an diese und diese Menschen.
Bevor er abgereist ist, hat er eine lange Namensliste in meinen Briefkasten geworfen. In Kyrillisch, das hab ich übersetzen lassen und das war dann der Kontakt nach Borispol. Damals ging das noch mit Faxnummern, ich habe das Fax der Uni genutzt, da war manchmal die Leitung stundenlang nicht frei. Die Leute, die ich auf diese Weise in Borispol kennengelernt habe, das ist die Gruppe, mit der wir heute noch Kontakt haben. Borispol ist 170 Kilometer von Tschernobyl entfernt, dorthin wurden ganz viele Menschen evakuiert.
Die Friedensgruppe der Lang-Gönser Kirchengemeinde mit Pfarrer Klein organisierte um diese Zeit eine Freundschafts- und Versöhnungsfahrt nach Russland, Weißrussland und in die Ukraine. Ich selbst war in der Gießener Initiative gegen Atomanlagen, und als ich von der geplanten Russland-Tour hörte, informierte ich die Friedensgruppe über die Lage und meinen Kontakt zu den Menschen aus Tschernobyl und bat darum, die von mir aus Spendenmitteln beschafften Hilfsmittel wie Medikamente, Vitamintabletten, Einmalhandschuhe und so weiter mitzunehmen. Die Friedensgruppe hat dann selbst noch heftig Spenden gesammelt. Nach dieser ersten Fahrt war das Thema Tschernobyl auch für sie deutlich und viele waren bereit, mit Pfarrer Klein und mir weiterzumachen. Ich war sehr froh, weil es für mich allein doch zu viel war. So ist der Arbeitskreis entstanden, im Oktober 1990, und in der Gründungsurkunde steht, dass wir nicht nur humanitäre Hilfe leisten wollen, sondern auch politisch tätig sind. Das heißt, wir haben zwei gleichberechtigte Standbeine: Aktionen gegen Atomenergie und humanitäre Hilfe für die Opfer der Reaktorkatastrophe.
Zu Beginn haben wir die Konvois noch komplett selbst durchgeführt, haben einen oder mehrere Lkw gechartert, vollgeladen und sind losgefahren. Heute nimmt eine Spedition aus Borispol auf ihrem Rückweg von Deutschland die Sachen mit. Wir haben zu Beginn auch Kinderurlaube organisiert wie viele andere Tschernobyl-Initiativen; das waren die ersten vier, fünf Jahre. Die Kinder waren in Jugendheimen untergebracht und zum Teil in Familien. Dadurch sind die intensivsten Beziehungen entstanden. Wir haben diese Art der Arbeit eingestellt, weil wir der Meinung sind, dass die Mittel, die da ausgegeben werden, effektiver eingesetzt werden können. Also haben wir einen Kindergarten in Borispol unterstützt. Seit 25 Jahren ist da unser fester Ansprechpartner der Verein „Kinder von Tschernobyl“, der von Evakuierten gegründet wurde. Bis heute sind das dieselben Personen. Damit in Borispol unabhängige Strahlenmessungen möglich sind, haben wir gleich zu Beginn ein Strahlenmessgerät nach Borispol gebracht. Aber die Strahlenbelastung dort ist nicht vergleichbar mit der in den stärker verseuchten Regionen.
Was ich selbst vor Ort gesehen habe, war eine Katastrophe. Vor allem, was die hygienischen Zustände im Bezirkskrankenhaus betraf. Nicht, weil den Leuten Hygiene nicht wichtig war – es gab das Geld einfach nicht. Wir haben für das Krankenhaus viele Geräte wie Ultraschall und EKG organisiert und sogar einen OP-Saal komplett neu hergerichtet. Bis heute ist die Armut vieler Menschen dort für uns völlig unvorstellbar. Durch den politischen Konflikt in der Ukraine haben sich die wirtschaftlichen Probleme noch einmal gravierend verschärft.
Es gibt eine ziemlich schöne Geschichte von einem jungen Mann, der 1992 als Kind bei uns im Kinderurlaub war, Valentin Avramenko. Heute ist er Anästhesist in Borispol an der Klinik. Er hat uns im November 2013 einen Brief geschrieben. Wir hätten ihm zweimal einen Traum erfüllt: damals mit dem Kinderurlaub und heute dadurch, dass wir ihm für seine Arbeit ein Laryngoskop organisieren konnten, ein medizinisches Hilfsinstrument zur künstlichen Beatmung.
Wir wollen, dass die Leute vor Ort trotz der schlimmen Armut eine Perspektive sehen. Wir haben vor einiger Zeit hochwertige Nähmaschinen geliefert, mit denen nun junge Leute nähen lernen; es gibt dort jetzt eine Nähstube. Noch wichtiger ist die Kleiderkammer in Borispol. Wir sammeln regelmäßig gute, gebrauchte Kleidung, die in Borispol über die Kleiderkammer an Tschernobylopfer und Bedürftige abgegeben wird. Außerdem betreibt die Borispoler Gruppe in den kalten Wintermonaten eine Suppenküche, die wir durch Spenden finanzieren.
Wir denken, es reicht nicht aus, nur die Wunden zu verbinden – man muss auch die Ursache bekämpfen. Also organisieren wir immer wieder Referenten, haben viele Anti-Atom-Demos mit initiiert. Ich habe in den 90er Jahren den Arbeitskreis davon überzeugt, den damaligen Boykott gegen Siemens mitzutragen, der Konzern hat ja fast alle AKW in Deutschland gebaut. Das gab heftigste Diskussionen, wir haben auch Spender verloren. Es war uns unterm Strich aber wichtiger, glaubwürdig zu sein.
Einmal haben wir in Geschäften in Gießen und Lang-Göns 3.000 Holzklötzchen mit Radioaktivitätszeichen verteilt – als das symbolische, rein rechnerische Pro-Kopf-Volumen von Atommüll, das bisher angefallen war. Die Kunden konnten das Klötzchen an Ort und Stelle in einen Umschlag stecken und an ihre Wahlkreis-Abgeordneten schicken, zusammen mit einem vorformulierten Brief, dass sie ihren Teil an die Verantwortlichen abgeben. Dann haben wir an einem Sonntag vor dem jährlichen Tschernobyl-Gottesdienst einem Bundestagsabgeordneten der CDU Briefe mit den Holzklötzchen in den Garten geschüttet. Seine Frau hat die Polizei gerufen, die wollte erstmal unsere Personalien aufnehmen. Wir haben gesagt, geht nicht, wir hätten keine Zeit, da müssten sie in den Tschernobyl-Gottesdienst nach Lang-Göns kommen. Sehr erfolgreich war auch unser Aufruf an die evangelischen Pfarrer in Mittelhessen, keine Produkte mehr von Siemens zu kaufen. 33 von ihnen haben sich öffentlich bekannt und mitgemacht, es gab einen ziemlichen Wirbel um die Sache und hat uns in der Süddeutschen Zeitung einen Zweispalter im Wirtschaftsteil gebracht, Titel: „Siemens und die 33 Pfarrer“. Meine Erfahrung ist: Wenn man eine gute Gruppe zusammenbekommt und es ein bisschen schlau anstellt, kann man richtig viel erreichen. Und zwar sowohl im humanitären Bereich als auch auf der politischen Ebene.
Die Arbeit im politischen Bereich hat sich heute verschoben – wir machen weniger direkte Aktionen und organisieren stattdessen Vorträge und Informationsveranstaltungen. Das liegt auch daran, dass sich der Kampf um die Form der Energienutzung verlagert hat. Er findet jetzt auf der ökonomischen Ebene statt, in meinen Augen ist er damit dort, wo er schon immer hingehörte. Und unsere Arbeit und unsere Präsenz in der Gemeinde und in den Zeitungen hält das Thema mit am Laufen.“
____________________________________________________________
Dieser Text ist ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 30 (Januar 2016) erschienen.
Unsere Empfehlungen zu frei verfügbaren Dokumentationen über den Super-GAU von Tschernobyl
Super GAU Tschernobyl
Sarkophag für die Ewigkeit?, ZDFinfo Doku, 2018
Weitere Filme zu Tschernobyl
Bücher zu Tschernobyl – unsere Empfehlungen
Silke Freitag, Jochen Stay, Alexander Neureuter: „Was wäre, wenn …"
...es zu einem Super-Gau im AKW Brokdorf kommt? Dieser Bildband gibt Antworten auf die Frage indem er Fotos aus Tschernobyl jeweils vergleichbare Momente aus dem Alltagsleben in Norddeutschland gegenüberstellt, beispielweise dem verwaisten Riesenrad in Pripyat das voll besetzte Riesenrad auf dem Hamburger Dom.
84 Seiten, Hrsg.: .ausgestrahlt, 2012
Swetlana Alexijewitsch 2006: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft
Die Tschernobyl-Katastrophe hat durch Fukushima eine schreckliche Brisanz gewonnen. Das preisgekrönte Buch von Swetlana Alexijewitsch in einer Neuausgabe mit einem aktuellen Vorwort. Über mehrere Jahre hat Swetlana Alexijewitsch Menschen befragt, deren Leben von der Tschernobyl-Katastrophe gezeichnet wurden. Entstanden sind eindringliche psychologische Portraits - literarisch bearbeitete Monologe - , die von Menschen berichten, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen müssen.
304 Seiten, Berlinverlag 2006, ISBN: 978-3-8333-0357-9
Eine Chronik der Zukunft
Igor Kostin: Tschernobyl. Nahaufnahme
1986 geschah in Tschernobyl das Unvorstellbare. Igor Kostin, der die ersten Bilder der Reaktorkatastrophe schoss, erzählt. Seine Nahaufnahmen sind ein bewegendes menschliches Zeugnis, eine Mahnung.
240 Seiten Antje Kunstmann Verlag 2006, ISBN 9783888974359
Tschernobyl Nahaufnahme
Francesco M. Cataluccio 2012: Die ausradierte Stadt
Für die meisten steht Tschernobyl für das Kernkraftwerk in der Ukraine, in dem sich 1986 im damaligen Russland der schwerste atomare Unfall der Geschichte ereignete. Doch jene Katastrophe ist nur einer von vielen Schicksalsschlägen, die diese geschichtsträchtige Region erleiden musste: von den endlosen Kriegen zwischen Polen, Ukrainern und Russen bis zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, die hier ihr wichtigstes chassidisches Zentrum hatte. Der Slawist Francesco M. Cataluccio, damals in Warschau hautnah am Geschehen, reist fünfundzwanzig Jahre später in die „Verbotene Zone“ Tschernobyls. „Die ausradierte Stadt“ ist eine Reisereportage und archäologische Erkundung zugleich - vor allem aber ein Buch über die Entwurzelung in Mitteleuropa.
160 Seiten, Zsolnay 2012, ISBN 978-3-552-05581-0
Die ausradierte Stadt
Peter Jaeggi (Hrsg): Tschernobyl für immer. Von den Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Super-GAU in Fukushima
Am Beispiel von Tschernobyl zeigen Peter Jaeggi und seine Koautoren auf, wie sehr und wie lange die Folgen einer nuklearen Katastrophe auf betroffenen Menschen, auf der getroffenen Natur lasten. Der belgische Autor und Dokumentarfilmer Alain de Halleux beschreibt die katastrophalen Zustände im Sarkophag von Tschernobyl; der junge belarussische Fotograf Andrej Ljankewitsch erzählt mit seiner Kamera ganz persönliche Tschernobylgeschichten. Zudem berichtet die japanische Journalistin Yumi Kikuchi aus Fukushima und über die Langzeitfolgen der Atombombenabwürfe in Japan sowie der Atombombenversuche im Pazifik.
Broschiert, 408 Seiten, Lenos 2011, ISBN-10: 3857874198
Tschernobly für immer
Fotos von Tschernobyl und Umgebung
alle Fotos von Alexander Tetsch, 2011. Infos zur Fotoausstellung "Was wäre, wenn ..."