Explosion im AKW Fukushima Daiichi
Dieser Text stammt aus dem Jahr 2020 und beschreibt eine Situation vor dem Atomausstieg am 15. April 2023.

Atomunfall – sicher ist nur das Risiko

Ob technischer Defekt oder Flugzeugabsturz, Materialermüdung oder Unwetter, Naturkatastrophe oder menschliches Versagen – in jedem Atomkraftwerk kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Ein Super-GAU bedroht Leben und Gesundheit von Millionen.

Die hochradioaktiven Brennelemente im Reaktorkern eines AKW erzeugen eine unvorstellbar große Hitze, die permanent abgeführt werden muss – andernfalls droht eine Kernschmelze. Wie in Tschernobyl und Fukushima würden dabei große Mengen radioaktiver Stoffe ins Freie gelangen. Die Folge wären Gesundheitsschäden ungekannten Ausmaßes und eine radioaktive Wolke, die riesige Gebiete auf Jahrzehnte unbewohnbar macht. Im dicht besiedelten Europa würden Millionen Menschen Heimat, Haus und Arbeitsplatz verlieren.

Keines der drei noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland ist gegen den Absturz eines großen Passagierflugzeugs oder gegen ein starkes Erdbeben geschützt. Selbst Blitz, Sturm oder Hochwasser können zum Super-GAU führen. Mit zunehmendem Alter der Reaktoren steigt zudem die Gefahr: Material ermüdet, Bauteile fallen aus. Dass es hierzulande bisher nicht zu einer Reaktorkatastrophe kam, war mehrfach nur Zufall und Glück.

Bei einem schweren Atomunfall sind alle Pläne zum Katastrophenschutz Makulatur: Viel zu viele Menschen müssten in viel zu kurzer Zeit weiträumig evakuiert werden. Mit einer echten Haftpflichtversicherung, welche die bei einem Atomunfall zu erwartenden Schäden in voller Höhe abdeckt, wäre jedes Atomkraftwerk sofort unrentabel.

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FAQ: Risiko bei uns
Fragen und Antworten zum Sicherheitsrisiko von AKW bei uns
  • Ja, denn kein Atomkraftwerk weltweit ist wirklich sicher. Selbst Atomkraftbefürworter gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es weitere Atomkatastrophen geben wird.1 Das Technische Hilfswerk (THW) will die Zahl seiner Helfer*innen mit Strahlenschutzkenntnissen mehr als verzehnfachen.2 Bis diese wieder gebraucht werden, ist nur eine Frage der Zeit.

    13Sat, Programmhinweise zur Dokumentation „Tabu Kernforschung“ am 29. Oktober 2015

    2Focus 15/2011, Interview mit THW-Präsident Albrecht Broemme

  • Ja und nein. Die heute noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland haben kein Grafit im Kern, ein Grafitbrand wie in Tschernobyl ist daher nicht möglich. Zu einem Super-GAU mit Kernschmelze kann es jedoch auch in Deutschland kommen. Die halbstaatliche Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) ermittelte 1989 in der „Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B“, dass dabei fünfmal mehr Radioaktivität als in Tschernobyl freigesetzt werden könnte.1 Wegen der siebenmal größeren Bevölkerungsdichte wären zudem noch weit mehr Menschen ganz direkt betroffen. Und es gäbe sicher keine Hunderttausenden von Liquidator*innen, die die Katastrophe bekämpfen würden.

    1Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke, Phase B

  • Ja. Erdbeben und Flutwellen fallen hierzulande zwar eher schwächer aus als in Japan, die Atomkraftwerke sind darauf aber auch weniger gut vorbereitet. Alle Atomkraftwerke in Deutschland liegen an Flüssen, die über die Ufer treten können, das AKW Neckarwestheim sogar in einer Senke unterhalb des Wasserspiegels. Und bei manchen Anlagen ist nicht einmal der grundlegendste Schutz gegen Erdbeben nachgewiesen. Dass ein Naturereignis deutlich stärker ausfällt, als man das bei Planung und Bau der AKW angenommen hat, kann also auch in Deutschland passieren. Darüber hinaus sind jede Menge andere Ereignisse, bekannte wie unbekannte, möglich, die zum Stromausfall, zum Ausfall der Kühlung oder auf andere Weise zum Super-GAU führen können: Unwetter, Kurzschlüsse, unbemerkte Fehler bei Bau oder Reparatur der Reaktoren, Materialschwäche, Risse, Ausfall von Bauteilen, Fehlbedienungen und Fehlverhalten der Betriebsmannschaft, Computerviren, Cyberattacken, Flugzeugabstürze, Angriffe von innen und außen und vieles mehr.

  • Der sogenannte Stresstest war ein Fragebogen an die AKW-Betreiber, in dem diese schildern sollten, wie ihre Reaktoren ihrer Meinung nach auf Ereignisse vorbereitet sind, für die sie eigentlich nicht ausgelegt sind. Themen waren etwa Erdbeben, Hochwasser, Stromausfall und Ähnliches. Die Betreiber antworteten nach Aktenlage, oft sogar ohne Belege, tatsächliche Prüfungen fanden sowieso keine statt. Dennoch erreichte kein einziger Reaktor in allen Punkten auch nur das von der Reaktorsicherheitskommission formulierten Sicherheits-Level 2, geschweige denn Level 3. Gleich komplett außen vor blieben all jene Ereignisse, die ein AKW eigentlich beherrschen müsste – was allerdings längst nicht in allen Reaktoren der Fall ist. Die als „Test“ bezeichnete Umfrage blendete also die vielen bereits bekannten gravierenden Sicherheitsdefizite der Anlagen schlicht aus. „Im Ergebnis“, resümierte der Reaktorsicherheitsexperte und ehemalige Chef der Bundesatomaufsicht Wolfgang Renneberg, „entspricht die Methodik einer Sicherheitsüberprüfung von Passagierflugzeugen, bei der eine altersschwache Maschine mit unzuverlässigen Triebwerken deshalb gut abschneidet, weil es noch Fallschirme an Bord gibt.“1

    1Focus online, 18. Mai 2011

  • Die Katastrophenschutzplanungen für Atomunfälle gingen bisher davon aus, dass Evakuierungen nur im Umkreis von zehn Kilometern um Atomanlagen nötig seien. Das war zwar schon immer absurd. Erst nach Fukushima jedoch sah sich die Politik unter Zugzwang. Auf Empfehlung der Strahlenschutzkommission beschlossen die Innenminister*innen im Juni 2014, die Evakuierungszonen rings um die AKW auf 20 Kilometer zu erweitern. Noch bis in 100 Kilometer Entfernung vom AKW soll die Bevölkerung im Zweifel künftig per Lautsprecherdurchsagen aufgefordert werden, sich tagelang im Haus zu verkriechen. Allerdings gehen die Minister*innen immer noch davon aus, dass die Freisetzung radioaktiver Stoffe maximal 50 Stunden andauert – in Tschernobyl zog sie sich elf, in Fukushima gar 25 Tage hin. Und sowieso halten die Minister*innen Evakuierungen erst ab einer zu erwartenden Belastung von 100 Millisievert für nötig, das ist fünfmal mehr als in Japan. Tatsächlich sind also auch die neuen Evakuierungszonen in den Katastrophenschutzplänen noch deutlich zu klein.1

    1.ausgestrahlt, Hintergrund Katastrophenschutz, 30. Juli 2014

  • Das Basler Prognos-Institut berechnete 1992 für das Bundeswirtschaftsministerium die Folgen eines Super-GAU im AKW Biblis. Ergebnis: etwa fünf Millionen Krebserkrankungen, die Hälfte davon tödlich. Etwa zehn Millionen Menschen müssten umsiedeln, weil ihre Heimat durch den radioaktiven Fallout dauerhaft unbewohnbar würde. Aus demselben Grund gingen Millionen von Arbeitsplätzen verloren.

    Den finanziellen Schaden eines solchen Unfalls taxierte die Studie auf 2.500 bis 5.500 Milliarden Euro – das ist das elf- bis 25-Fache des damaligen Bundeshaushalts.1 Ein schwerer Atomunfall käme also nicht nur einem gesundheitlichen, sondern auch einem volkswirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, von den sozialen und politischen Folgen ganz abgesehen. Und die Zeche zahlen, wie in Japan aktuell zu beobachten, natürlich nicht die Unternehmen, sondern immer die Steuerzahler*innen.

    Das Bundesamt für Strahlenschutz hat 2012 die radiologischen Auswirkungen eines Unfalls ähnlich dem in Fukushima durchgerechnet. Bei der Simulation wurden Gebiete in bis zu 170 Kilometer Entfernung nach japanischen Maßstäben dauerhaft unbewohnbar – obwohl das Amt davon ausging, dass lediglich zehn Prozent der Radioaktivität aus dem Reaktor entweichen würden. Bei anderer Witterung und/oder Freisetzung von einem größeren Anteil des radioaktiven Inventars wären die Auswirkungen also noch gravierender.2

    1Ewers, Abschätzung der Schäden durch einen sogenannten „Super-GAU“, 1992

    2BfS, Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kernkraftwerke basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima, 2012

  • Nein. Noch immer sind drei Reaktoren am Netz. In jedem von ihnen kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Der Wegfall der Brennelementesteuer machte sie für die Stromkonzerne wieder zu richtigen Goldeseln. Und im Windschatten der Klimakrise wittern Atom-Fans schon wieder Morgenluft – und werben für Laufzeitverlängerungen und neue Reaktoren.

    Schon einmal – nach dem rot-grünen „Atomkonsens“ 2001 – hatten sich viele Atomkraftgegner*innen darauf verlassen, dass die Reaktoren in einigen Jahren vom Netz gehen werden. Das Ergebnis war 2010 eine Laufzeitverlängerung selbst für die marodesten Uraltmeiler. Nur der Super-GAU in Fukushima und die massiven Anti-Atom-Proteste im Frühjahr 2011 haben diese wenig später wieder gekippt und das sofortige Aus für die acht ältesten Reaktoren erzwungen. Atomausstieg heißt, alle AKW (und auch die Atomfabriken in Gronau und Lingen) abzuschalten. So weit sind wir – leider – noch immer nicht.

Hintergrund
AKW-Schwachstellen
Das Bisschen Atomkraft