Herbstliche Putin-Festspiele

30.10.2024 | Julian Bothe
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Foto: Lars Hoff

Ende November muss sich die Atomfabrik Lingen erstmals öffentlich der Kritik an ihrem Kooperationsprojekt mit dem Kreml-Konzern Rosatom stellen – auch wenn sie genau darüber nicht reden will.

Wenn das niedersächsische Umweltministerium voraussichtlich in der zweiten Novemberhälfte zur Erörterung einlädt, um die vielen tausend Einwendungen gegen den beantragten Ausbau der Lingener Atomfabrik zu diskutieren, wird es spannend: Werden die deutschen Behörden zulassen, dass die Brennelementefabrik, deren Produkte im Reaktorkern von Atomkraftwerken in ganz Europa zum Einsatz kommen, direkt mit der russischen Atombehörde zusammenarbeiten darf? Mit einem Staatskonzern, der mitten in Europa aktiv einen Krieg vorantreibt, der schon lange als politisches Machtmittel benutzt wird und dessen Weisungsgeber sich im Konflikt mit dem gesamten „kollektiven Westen“1 sehen?

Zum ersten Mal geht es bei der Erweiterung einer Atomanlage damit auch um die sicherheitspolitischen Gefahren, die mit einem solchen Projekt einhergehen. Und zum ersten Mal muss sich die Lingener Atomfabrik in diesem Zusammenhang direkt der Kritik stellen. Der französische Staatskonzern Framatome, dessen Tochtergesellschaft die Fabrik betreibt, hat bisher stets versucht, so wenig Informationen wie möglich nach außen dringen zu lassen. Am liebsten würde er gar nicht über die geopolitische Gefahren des Ausbaus reden. In seiner Version geht es nur darum, einige neue Maschinen aufzustellen. Die damit verbundenen Gefahren, Abhängigkeiten und Informationsflüsse blendet er komplett aus.

Sicherheitspolitische Gefahren

Dass diese Aspekte aber im Genehmigungsverfahren eine Rolle spielen müssen, hat der renommierte Atomrechtsexperte Gerhard Roller in einem für das Bundesumweltministerium erstellten Gutachten klargestellt. Demnach müssen die Behörden auch die sicherheitspolitischen Gefahren einer Kollaboration mit Rosatom berücksichtigen.2 Dies muss auch dann geprüft werden, wenn Rosatom, wie in diesem Fall, gar nicht als Antragsteller oder Betreiber in Erscheinung tritt. Für die Bewertung ebenfalls unerheblich ist Roller zufolge, dass sich die beantragte Herstellung von Brennelementen russischen Typs technisch nicht sehr stark von der bisherigen Produktion unterscheidet. Denn: „Zu verhindern, dass durch Anwendung […] der Kernenergie […] die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet wird“, ist – neben dem Strahlenschutz – explizites Ziel des Atomgesetzes. Zu prüfen ist also unter anderem, inwiefern die Beteiligung Rosatoms die innere oder äußere Sicherheit gefährden könnte. Seien „nuklearspezifische Gefahren“ zu befürchten, so Roller, stehe den Behörden ein „Versagensermessen“ zu: Sie können die atomrechtliche Genehmigung auch dann verweigern, wenn die Anlage die Anforderungen etwa bei Strahlenschutz und Emissionswerten erfüllt.

Solche Gefahren gibt es viele. Bereits jetzt ist Deutschland ein Hauptziel russischer Spionage und Desinformationsbemühungen.3,4 Auch Fälle von Sabotage haben in letzter Zeit zugenommen.5 Bei einer Beteiligung Rosatoms können diese auch im Atombereich nicht ausgeschlossen werden. So könnte Rosatom die in Lingen gefertigten neuen Brennelemente manipulieren und dadurch für Gefährdungen in Atomanlagen anderswo sorgen. Es könnte auch in Lingen selbst zu Spionage und/oder Sabotage kommen. Oder Rosatom könnte durch die Zusammenarbeit an sicherheitsrelevante Informationen etwa über von Lingen belieferte andere Atomanlagen gelangen. Berücksichtigt werden muss laut Roller auch die Möglichkeit, dass Rosatom über die Zusammenarbeit Informationen gewinnen könnte, die zur „Destabilisierung der öffentlichen Sicherheit“ oder „Desinformation und Verunsicherung der lokalen Bevölkerung“ genutzt werden könnten.

Framatome ANF versucht seit Monaten, seinen Kritiker*innen den Wind aus den Segeln zu nehmen. So betont der Konzern inzwischen etwa, dass, anders als zunächst mitgeteilt, nun doch keine Mitarbeitenden von Rosatom das Betriebsgelände mehr betreten müssten – als ob die Gefahr von Spionage und Sabotage in oder mithilfe der Brennelementefabrik damit aus der Welt sei. Ein eigens in Auftrag gegebenes Gegengutachten, das Framatome an Politiker*innen und Journalist*innen verteilt, argumentiert, dass die sicherheitspolitischen Gefahren rechtlich keine Rolle zu spielen hätten und außerdem sowieso nicht existierten …

Protest ist weiter nötig

Der Erörterungstermin, an dem mindestens alle Einwender*innen teilnehmen können, dient dem Austausch der Argumente. Die Behörde muss diese im Anschluss dann abwägen, unter Umständen auch weitere Gutachten und Stellungnahmen einholen. Die Entscheidung fällt also erst einige Zeit später.

.ausgestrahlt wird in Lingen gemeinsam mit anderen Initiativen dafür streiten, dass die mannigfaltigen Gefahren, auch die sicherheitspolitischen, auf den Tisch kommen und dass die Atomaufsicht diese in der notwendigen Tiefe prüft. Politisch ist der Erörterungstermin eine gute Gelegenheit, den breiten Widerspruch gegen das skandalöse Vorhaben noch einmal unübersehbar deutlich zu machen. Denn leider werden auch die besten Argumente alleine nur begrenzte Wirkung entfalten, wenn sie nicht von öffentlichem Protest begleitet werden. Insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich bislang um eine klare Positionierung in dieser Frage gedrückt. .ausgestrahlt ruft deshalb dazu auf, in Lingen möglichst zahlreich Gesicht gegen den geplanten Ausbau der Atomfabrik zu zeigen, entweder physisch oder mit Foto und Bild – mehr dazu siehe Artikel „Der Deal mit Rosatom“.

Mitten im russischen Angriffskrieg die Beteiligung des Kreml-Konzerns Rosatom an einer Atomanlage wie in Lingen auch nur in Erwägung zu ziehen, ist unverantwortlich und gefährlich. Aus Anti-Atom-Sicht kommt noch ein weiteres Argument hinzu: Gelingt es, den beantragten Ausbau und den Einstieg Rosatoms zu stoppen, bringt das auch die komplette Schließung der Atomfabrik einen großen Schritt näher.

Dieser Text erschien erstmals im .ausgestrahlt-Magazin 62 (Okt 2024 - Jan 2025)

weiterlesen:

  • Der Deal mit Rosatom
    24.10.2024: Die Atomfabrik Lingen will mit der staatlichen russischen Atombehörde gemeinsame Sache machen. Bald wird das Vorhaben öffentlich erörtert. Was dahinter steht und warum es viele empört
  • „Framatome schafft Fakten am Gesetz vorbei“
    18.06.2024: Rechtsanwältin Michéle John über die Gefahr von Spionage und Sabotage durch Rosatom und den Versuch von Framatome, Sicherheitsvorschriften durch Ausweichen auf ein benachbartes Grundstück zu umgehen.
    Rosatom stellen – auch wenn sie genau darüber nicht reden will
  • Atomfabrik Lingen schließen - Keine Geschäfte mit Rosatom
    Alle Infos zur Brennelementefabrik, der geplanten Produktionsausweitung und die Rolle des russischen Staatskonzerns Rosatom.
  • Der Elefant im Raum
    12.02.2024: Die Brennelemente-Fabrik Lingen will ihre Produktion erweitern, die Unterlagen dazu liegen bis März öffentlich aus. Doch über die Kooperation mit Rosatom, Anlass der Expansion, und die Rolle des Kreml-Konzerns bei dem Projekt verlieren sie kein Wort.
  • Im Sicherheitsbereich
    5.1.2024: Berührt der Einstieg von Rosatom in die Brennelemente-Fertigung in Lingen bundesdeutsche Sicherheitsinteressen? Das legen Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums nahe. Und auch Reaktorsicherheitsexpert*innen warnen: Ein derartiger Partner in einem solchen Betrieb sei keine gute Idee.
  • Kein Ausbau der Brennelementefabrik in Lingen – Sicherheitsgefahren nicht verheimlichen
    26.10.2023: Das Bundeswirtschaftsministerium sieht im Zusammenhang mit dem Einstieg Russlands in die Brennelementefertigung in Lingen die Möglichkeit einer „Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen“ Deutschlands und die Gefahr von „Sabotageakten“ – bis heute.
  • Der Atom-Riese
    3.8.2023: Der russische Staatskonzern Rosatom ist der größte Player im weltweiten Atomgeschäft. Im Auftrag des Kreml verbreitet er Atomkraft in alle Welt – und ist auch am Angriff auf die Ukraine beteiligt. Ein Überblick
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Julian Bothe

Julian Bothe arbeitet bei .ausgestrahlt zum Thema Klimakrise und Atomkraft. Er ist ausgebildeter Geograph und beschäftigt sich seit langem mit Energiefragen. Seit seiner Jugend ist er aktiv in sozialen Bewegungen – für Bewegungsfreiheit, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit.

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