„Sicherheitstechnisch der ganz falsche Weg“

22.10.2024 | Anna Stender
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Foto: Lars Hoff

Dipl.-Phys. Oda Becker über den tödlichen Inhalt der Jülich-Castoren, unmöglich rechtzeitige Evakuierungen nach einem Unfall oder Anschlag und Gefahren durch Drohnenangriffe.

Bundes- und NRW-Landesregierung wollen 152 Castorbehälter aus Jülich nach Ahaus transportieren – die größte Castorlawine aller Zeiten. Wie gefährlich ist dieser Müll?
Oda Becker: Sehr. Die rund 300.000 tennisballgroßen Brennelemente aus dem AVR in Jülich, die in den Castoren lagern, enthalten noch immer jede Menge hochradioaktive Spaltprodukte, darunter äußerst langlebige Nuklide, also immer noch sehr viel Radioaktivität. Zudem enthalten sie große Mengen an brennbarem Grafit.

Die Behälter müssen unter anderem einem 30-minütigen und 800 Grad heißen Feuer oder einem Sturz aus neun Metern Höhe auf harten Untergrund standhalten.
Richtig. Die Jülich-Castoren wurden allerdings nicht real getestet. Es wurden nur die Ergebnisse von Tests anderer Behältertypen rechnerisch auf sie übertragen.

Die Transporte sollen über Brücken und durch Tunnel rollen und Landstraßen und Autobahnen nutzen, die zum Teil mitten durch große Städte wie Düsseldorf und Duisburg führen. Decken die Sicherheitsnachweise die dabei möglichen Unfälle ab?
Nein. Es sind Szenarien vorstellbar, in denen ein Brand länger als 30 Minuten dauert und auch höhere Temperaturen erreicht als 800 Grad, etwa ein Tunnelbrand oder ein Brand mit Kerosin, der schwer zu löschen ist. Auch ein Sturz aus größerer Höhe ist möglich oder ein anderer Unfall mit mehr als 50 Stundenkilometern Aufprallgeschwindigkeit. Es ist zudem nie ganz auszuschließen, dass ein Behälter wegen Alterung oder Qualitätsmängeln, also wegen eines existierenden, aber vorher nicht bekannten Problems, auch schon bei geringeren Belastungen undicht wird und Radioaktivität austritt. Es ist fahrlässig, mit diesen Transporten durch Wohngebiete zu fahren.

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In Dresden ist kürzlich eine Brücke eingestürzt, auch in Nordrhein-Westfalen sind viele Brücken sanierungsbedürftig. Was bedeutet das für die Castortransporte?
Es sind 152 Straßentransporte geplant, und die Fahrzeuge, die zum Einsatz kommen sollen, sind sehr schwer. Die Anzahl der Transporte in Kombination mit dem Gewicht des Spezialsattelschleppers erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu unvorhergesehenen Unfällen kommt. Ich will da keine unnötige Angst schüren, aber ein Unfall, bei dem auch Radioaktivität frei wird, kann nicht vollständig ausgeschlossen werden.

Was ist mit möglichen Angriffen auf die Atommülltransporte?
Der Beschuss eines Behälters mit einer panzerbrechenden Waffe gilt seit Jahrzehnten als zu berücksichtigendes Szenario. Es ist bekannt, dass Terrorist*innen solche Waffen haben, weil sie leicht zu transportieren und leicht zu bedienen sind. Viele Soldat*innen kennen sie aus kriegerischen Auseinandersetzungen und können sie bedienen. Deswegen haben sich die Sicherheitsbehörden darauf geeinigt, dass ein Castorbehälter dem Beschuss mit einer panzerbrechenden Waffe eigentlich standhalten muss. Trotzdem ist eine Freisetzung von Radioaktivität nach einem Beschuss nicht auszuschließen.

Was könnten die Konsequenzen sein?
Laut meinen Berechnungen müsste die Bevölkerung bis in 160 Meter Entfernung in Windrichtung eigentlich sofort evakuiert werden. Das ist aber gar nicht möglich, weil die Freisetzung sofort geschieht. Wer sich da aufhält, kriegt unweigerlich eine gesundheitsschädliche Strahlenbelastung ab. In der direkten Umgebung des Behälters könnte diese sogar zum Tod führen.

Das Gutachten

Die Studie „Mögliche Auswirkungen von Unfällen oder Angriffen auf Castor-Transporte von Jülich nach Ahaus“ kannst Du hier herunterladen:
ausgestrahlt.de/gutachten-transporte

Im Krieg Russlands gegen die Ukraine kommen inzwischen sehr häufig Drohnen zum Einsatz.
Kamikaze-Drohnen oder „rumlungernde Drohnen“ werden dort als Gamechanger bezeichnet. Es hat sich herausgestellt, dass Panzer mit diesen bewaffneten, ferngesteuerten Drohnen, die inzwischen in großer Stückzahl gefertigt werden, besser aufgehalten werden können als mit panzerbrechenden Waffen. Für die Castortransporte bedeutet das: Nicht mehr der Beschuss eines Behälters mit einer panzerbrechenden Waffe müsste als schlimmstes Szenario betrachtet werden, sondern der Beschuss mit einer oder mehreren Drohnen.

Was wären die Auswirkungen eines Angriffs mit solchen Drohnen?
Ich habe plausibel angenommen, dass dabei ein Fünftel des Materials aus dem Castorbehälter freigesetzt wird. Menschen, die sich in Windrichtung im Freien aufhalten, würden dann bis in 120 Meter Entfernung eine tödliche Dosis erhalten. Bis in etwa 50 Meter Entfernung wäre diese selbst bei einem Aufenthalt im Haus noch lebensbedrohlich beziehungsweise tödlich, weil die feinen radioaktiven Partikel auch geschlossene Fenster durchdringen. Die Bevölkerung müsste bis in vier Kilometer Entfernung evakuiert werden – dass das so schnell nicht möglich ist, hatte ich ja bereits erwähnt. Bis in 600 Meter Entfernung wäre das Gebiet langfristig nicht bewohnbar. Und bis mindestens in 20 Kilometer und wahrscheinlich weit darüber hinaus könnte die Ernte nicht verwendet werden. Wie weit genau, lässt sich mit dem Programm, das ich verwendet habe, nicht sagen. Insgesamt wären die Auswirkungen eines solchen Angriffs aber katastrophal.

Mal abgesehen von dem Unfall- und Angriffsrisiko: Wie sinnvoll ist es überhaupt, den Atommüll aus Jülich nach Ahaus zu verfrachten und dort abzustellen?
Sicherheitstechnisch halte ich das für den ganz falschen Weg. Das Zwischenlager in Ahaus, wo die radioaktiven Abfälle landen sollen, ist neben dem in Gorleben das am schlechtesten geschützte Zwischenlager in Deutschland. Die Genehmigung für das Zwischenlager in Ahaus endet zudem 2036, das ist absehbar. Noch mehr Castoren dorthin zu bringen, ist deshalb sehr, sehr kurzsichtig.

Was wäre die Alternative?
Ein neues, wesentlich besser geschütztes Zwischenlager am Standort Jülich. Das hätte längst errichtet werden können. Das Zwischenlager, das gerade in Lubmin gebaut wird, hat 1,80 Meter dicke Wände und nicht nur 50 Zentimeter dicke Wänden und 20 Zentimeter dicke Decken wie das Zwischenlager in Ahaus. Aus sicherheitstechnischer Sicht muss schnellstens an der Neubauoption in Jülich weitergearbeitet werden. Es macht wenig Sinn, die Bevölkerung den Gefahren von 152 Transporten auszusetzen.

Interview: Anna Stender

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Foto: privat

Oda Becker

Dipl.-Phys. Oda Becker arbeitet seit rund 25 Jahren als unabhängige Wissenschaftlerin im Bereich Sicherheit und Risiken von Atomanlagen.
 

Dieser Artikel erschien erstmals im .ausgestrahlt-Magazins 62 und gehört zum Schwerpunkt: Wer stoppt die Castor-Lawine?

  • Auf Teufel komm raus - Die größte Castorlawine aller Zeiten ließe sich leicht stoppen. Doch die Verantwortlichen ducken sich weg.
  • Interview: „Sicherheitstechnisch der ganz falsche Weg“
  • Hintergrund: Bloß weg damit - Ein neues Zwischenlager in Jülich könnte längst stehen, wenn Politik und Eigentümer des Atommülls Verantwortung übernehmen würden

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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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