Auf Teufel komm raus

18.10.2024 | Armin Simon
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Foto: Helge Bauer

CDU und Grüne wollen sie angeblich verhindern, dennoch könnte noch dieses Jahr der erste von 152 Castortransporten per Lkw durch das dicht besiedelte NRW rollen. Die größte Castorlawine aller Zeiten ließe sich leicht stoppen. Doch die Verantwortlichen ducken sich weg.

Jülich, 2014: Die nordrhein-westfälische Atomaufsicht ordnet die unverzügliche Räumung des Jülicher Atommüll-Lagers an, weil der Nachweis der Erdbebensicherheit fehlt. Der Betreiber des Lagers, das Forschungszentrum Jülich (FZJ), spielt seit Jahren auf Zeit. Die Anordnung soll Druck machen, damit es endlich vorangeht.

Das FZJ bzw. die Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN), die seit ihrer Gründung 2015 Betreiber ist, haben jedoch kein Interesse, den Müll möglichst sicher vor Ort zu lagern. Sie wollen die Hinterlassenschaften des unrühmlichen Pannenreaktors AVR Jülich, den das FZJ jahrzehntelang förderte, mit Brennstoff versorgte und weltweit als Modell propagierte, stattdessen anderen aufs Auge drücken.

Zwar ist der Erdbebensicherheitsnachweis für die Halle inzwischen erbracht, eine Verflüssigung des Bodens unter dem Atommüll-Lager demnach nicht zu befürchten. Die JEN aber hält an ihren Plänen fest, die 152 Castorbehälter aus Jülich per LKW ins Zwischenlager Ahaus zu transportieren. Es wäre die größte Castorlawine aller Zeiten.

In diesem Atommüll-Poker spielt die Räumungsanordnung von 2014 eine entscheidende Rolle. Sie suggeriert, dass es dringend notwendig sei, den Strahlenmüll aus Jülich wegzubringen – und liefert so einen Vorwand für die geplanten Transporte. Tatsächlich ist mit dem Nachweis der Erdbebensicherheit das entscheidende Hindernis für eine (Wieder‑)Genehmigung des Lagers in Jülich ausgeräumt. Der einzig noch ausstehende Nachweis der IT-Sicherheit dürfte eine vergleichsweise einfache Aufgabe sein. (Dass dieser Punkt auch 17 Jahre nach dem ersten Antrag auf Neugenehmigung des Lagers noch immer nicht geklärt ist, zeigt bloß, wie nachrangig FZJ und JEN dies von Anfang an behandelt haben). Eine neue Genehmigung könnte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums vorliegen.

Die NRW-Atomaufsicht wiederum, angesiedelt im grün geführten Wirtschaftsministerium unter Mona Neubaur, wiederholt gebetsmühlenartig die Auffassung, sie sei wegen der noch immer fehlenden Genehmigung gezwungen, die Räumungsanordnung aufrechtzuerhalten. Doch ist es wirklich notwendig, das Genehmigungsverfahren vollständig abzuschließen, um die Räumung des Jülicher Lagers abzublasen? Um diese Frage zu klären, hat .ausgestrahlt den Hamburger Atomrechtsexperten Dr. Ulrich Wollenteit mit einem Rechtsgutachten beauftragt.

Räumungsverfügung obsolet

Das Gutachten bestätigt, dass aufgrund der nachgewiesenen Erdbebensicherheit davon auszugehen ist, dass das Neugenehmigungsverfahren für das bestehende Jülicher Zwischenlager erfolgreich abgeschlossen werden kann. Damit könne ein rechtmäßiger Zustand hergestellt werden, ohne das Lager räumen zu müssen. Wollenteit argumentiert, dass die Räumung nicht mehr zwingend notwendig sei und daher neu entschieden werden könne. Dafür, die Entscheidung zu revidieren, spreche, dass dadurch die risikoreichen Transporte vermieden werden könnten. Der Verbleib der Castorbehälter im Zwischenlager Jülich und der Verzicht auf 152 riskante Transporte stelle sich „als das mildere Mittel für die Allgemeinheit“ dar, schreibt der Gutachter. Die Atomaufsicht, resümiert Wollenteit, könne die Räumungsanordnung widerrufen und gleichzeitig eine befristete Duldung aussprechen, damit das Genehmigungsverfahren zu Ende geführt werden könne.
Neubaur aber stellt sich stur. In einer schriftlichen Reaktion auf das Gutachten wiederholt sie das altbekannte Skript ihres Atomreferats: Die Sachlage habe sich seit 2014 „nicht signifikant geändert“, ein Widerruf der Räumungsanordnung sei „nicht angezeigt“, eine neue Genehmigung für das bestehende Lager „nicht hinreichend konkret zu erwarten“.

Das ist offenkundig falsch. Denn die JEN selbst hat noch Mitte August verlauten lassen, sie gehe davon aus, alle Aufgaben der Genehmigungsbehörde noch in diesem Jahr erfüllen zu können. Bei einer offiziellen Informationsveranstaltung in Jülich zwei Wochen später, nach Veröffentlichung des Rechtsgutachtens durch .ausgestrahlt, rudert sie plötzlich zurück. Es klingt, als habe jemand hinter den Kulissen den Text geändert: Es gebe Probleme, eine neue Genehmigung für das Bestandslager zu bekommen; die IT-Sicherheit könne nicht vor 2025/2026 nachgewiesen werden. Deshalb wolle man so schnell wie möglich die Transporte durchführen. Im Übrigen, setzt die JEN dann wie zur Sicherheit noch hinzu, werde man an diesen Plänen auch dann festhalten, wenn das Ministerium die Räumungsanordnung aussetzen sollte.

Rechtlich fragwürdig

Juristisch begibt sich die JEN mit diesen Ankündigungen gleich in zweifacher Hinsicht auf dünnes Eis. Zum einen ist unklar, ob ein Abtransport der Brennelementkugeln ohne die Räumungsverfügung überhaupt zulässig ist. Schließlich hat der Bundestag im Jahr 2002 beschlossen, dass hochradioaktive Abfälle aus Leistungsreaktoren am jeweiligen Standort zwischengelagert werden sollen. So steht es im Atomgesetz. Und der AVR wurde, wie auch das Rechtsgutachten festhält, in kommerzieller Absicht als Versuchsreaktor gebaut und lieferte 1,6 Millionen Kilowattstunden Strom ins Netz. Auch das BASE führt ihn in der Liste der kerntechnischen Anlagen als „Kernkraftwerk“ – und nicht als „Forschungsreaktor“. Zum anderen klagen die Stadt Ahaus und ein Bürger seit 2017 gegen die Genehmigung, die Jülicher Castoren im Zwischenlager Ahaus lagern zu dürfen. Diese Klage hat aufschiebende Wirkung, die Hauptverhandlung steht noch aus. Ob und wann die Jülicher Castoren überhaupt in Ahaus abgestellt werden dürfen, ist also noch offen. Will sich die JEN darüber hinwegsetzen?

Mit den geplanten Transporten erhöht die JEN das Atom-Risiko – zulasten der Bevölkerung und vor allem zulasten der Menschen, die entlang der Transportstrecke wohnen. Dass Unfälle oder Angriffe auf die Atommüll-Fuhren kata-strophale Auswirkungen haben können, zeigt die Diplom-Physikerin Oda Becker in einem weiteren Gutachten (siehe Interview „Sicherheitstechnisch der ganz falsche Weg“). Die NRW-Landesregierung ist 2022 angetreten mit dem Versprechen, Atomtransporte zu minimieren und sich für einen Neubau eines Zwischenlagers in Jülich einsetzen zu wollen, das Maßstäbe in puncto Sicherheit setzt. Bisher ist davon nichts zu erkennen. Alle ducken sich weg und lassen der JEN freie Hand – zum Schaden der Allgemeinheit. Nicht nur wegen des unnötigen Transportrisikos. Sondern auch, weil die geplante Castorlawine zum Türöffner für weitere Atommüll-Verschiebereien werden könnte. .ausgestrahlt fordert von der schwarz-grünen Regierungskoalition in NRW, das in ihrem Koalitionsvertrag gegebene Versprechen umzusetzen und die geplanten Castortransporte zu unterbinden. Sie muss zudem dafür sorgen, dass die JEN endlich Verantwortung für ihren Atommüll übernimmt und sich aktiv für dessen möglichst sichere Lagerung in Jülich einsetzt. Bisher sieht es nicht danach aus, dass die Politik in Düsseldorf oder Berlin die drohenden Castortransporte ernsthaft verhindern oder dafür gar einen Koalitionskrach riskieren will. Der öffentliche Druck, die riskante Castorlawine durch NRW zu stoppen, ist offensichtlich noch nicht groß genug.

Dieser Artikel erschien erstmals im .ausgestrahlt-Magazins 62 und gehört zum Schwerpunkt: Wer stoppt die Castor-Lawine?

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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