Großes Tauziehen

Protest gegen den nuklearen Märchengipfel am 21. März in Brüssel
Protest gegen den nuklearen Märchengipfel am 21. März in Brüssel
Foto: Eric De Mildt / Greenpeace

Die EU ist aktuell Hauptzielscheibe der europäischen Atomlobby. In immer neuen Initiativen versucht diese, der Atomkraft Vorteile zu verschaffen. Nächstes Etappenziel ist, den Weg freizumachen für eine direkte finanzielle Förderung. Dem Klima kann das nur schaden.

EU-Taxonomie, Wasserstoff-Strategie, Erneuerbare-Energien-Richtlinie, Net-Zero Industry Act – was dem Weg der EU zur Klimaneutralität dienen sollte, ist in den letzten Jahren zum Schlachtfeld um die Atomkraft geworden. Insbesondere Frankreich hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, der Atomenergie einen grünen Anstrich zu geben. Doch wirtschaftlich wird sie dadurch noch lange nicht. Daher fordern die Atom-Fans jetzt eine direkte Förderung – auch aus dem EU-Haushalt und damit aus Steuermitteln.1

Atomkraftfreundliche Kräfteverhältnisse

Ihre Ausgangsposition ist günstig: In den drei wichtigsten EU-Institutionen hat die Atomlobby bereits an Einfluss gewonnen.

Atomfreundliche Politiker*innen besetzen wichtige Positionen in der EU-Kommission. Die Energiekommissarin Kadri Simson aus Estland etwa nimmt regelmäßig an den Treffen der Europäischen Nuklearallianz teil. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) stand zunächst für einen klimafreundlichen Umbau der EU weitgehend ohne Atomkraft. Auf dem Brüsseler Atomgipfel im März 2024 aber forderte sie zuletzt Investitionen in Atomkraft, Unterstützung durch die öffentliche Hand und Laufzeitverlängerungen.2 Auch die neue EU-Kommission, die nach der Europawahl durch das zukünftige EU-Parlament bestätigt werden muss, wird der Atomkraft wohl aufgeschlossen gegenüberstehen.

Bereits 14 der EU-Staaten – diese sind durch den Rat der Europäischen Union repräsentiert – mit 60 Prozent der EU-Bevölkerung haben sich der „Europäischen Nuklearallianz“ angeschlossen. Der Rat muss Gesetzesvorhaben im Normalfall mit mindestens 15 der 27 Mitgliedsstaaten zustimmen, in denen wenigstens 65 Prozent der EU-Bevölkerung leben. Die Länder der Nuklearallianz können daher nichts alleine durchsetzen. Aber ohne sie gibt es auch keine Mehrheiten.

Auch das EU-Parlament entscheidet zunehmend pro Atomkraft. Es wird direkt gewählt – das nächste Mal am 9. Juni. Gibt es bei der Wahl wie befürchtet einen Rechtsruck, werden sich die Mehrheitsverhältnisse weiter Richtung atomfreundlicher Parteien verschieben.

Wie geht es weiter?

Weitere Vorstöße in Sachen Subventionen für Atomkraft und EU-finanzierte Atomprojekte sind spätestens nach der Europawahl zu erwarten.3 Die Lobby arbeitet schon jetzt unermüdlich weiter. Und sie stößt zunehmend auf offene Ohren: So hat sich Frankreich erfolgreich für Nadia Calviño als neue Chefin der Europäischen Investitionsbank (EIB) eingesetzt, die zugesagt hat, sich für Atomkraft zu engagieren.

Aber lassen wir uns nichts vormachen: Die Erzählung von Atomkraft, die angeblich das Klima rettet, ist ein Märchen, das mit der Realität nichts zu tun hat. Auf Atomkraft zu setzen, rettet höchstens die Atomindustrie – jedenfalls eine Zeit lang, bis sie endgültig der Vergangenheit angehört. Wichtig ist, ihre Argumente immer wieder mit harten Fakten zu widerlegen (Beispiele siehe in der Analyse "Schein und Sein"). Sinnvoll ist auch die Vernetzung der Anti-Atom-Bewegung auf europäischer Ebene. Und wir müssen bei der Europawahl am 9. Juni die Anti-Atom-Fahne hochhalten. Denn obwohl eine Atomkraft-Renaissance im großen Stil schon wegen der hohen Kosten ausbleiben wird, schaden die ständigen Diskussionen über Atomkraft den europäischen Bemühungen um echten Klimaschutz (siehe Interview „Klima interessiert die Atomlobby nicht“).

In den vergangenen Jahren sind auf EU Ebene zahlreiche atomfreundliche Entscheidungen getroffen worden:

(Stand: Mai 2024)

EU-Taxonomie

Worum geht’s?
Die EU-Taxonomie ist ein System zur Bewertung der Nachhaltigkeit von Wirtschaftstätigkeiten. Große Unternehmen müssen offenlegen, inwiefern ihre Aktivitäten konform sind mit den Vorschriften der Taxonomie. Das soll nachhaltige Investitionen fördern und Greenwashing verhindern.

Was ist das Problem?
Frankreich und seine Verbündeten konnten im Juni 2022 erreichen, dass Atomkraft und fossiles Gas unter bestimmten Bedingungen als Brückentechnologien gelten. Diese Entscheidung hallt nun in allen Verhandlungen nach, in denen es darum geht, ob Atomenergie als nachhaltig gelten soll. Die Taxonomie ist damit selbst zum Greenwashing-Instrument geworden.

EU-Wasserstoffstrategie

Worum geht’s?
Wasserstoff soll bei Prozessen zum Einsatz kommen, die noch nicht elektrifiziert werden können, vor allem in der Chemie- und Stahlindustrie. Im Februar 2023 hat die EU entschieden, welcher Wasserstoff sich „grün“ nennen darf.

Was ist das Problem?
Anders als andere EU-Länder müssen Frankreich (und Schweden) die Kraftwerke, deren Strom zur Produktion von „grünem“ Wasserstoff genutzt werden soll, nicht zusätzlich errichten. Weht der Wind mal nicht, dürfen die Produzenten mit Atomkraft erzeugten Wasserstoff als „grün“ verkaufen. Außerdem darf Frankreich unter bestimmten Bedingungen 20 Prozent seines Wasserstoffziels mit Atomstrom erreichen statt mit Strom aus erneuerbaren Energien.

Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III)

Worum geht’s?
RED III legt ein Ziel von 42,5 Prozent für den Anteil der Erneuerbaren am EU-Gesamtenergiemix für das Jahr 2030 fest. Verkehr, Gebäude und Industrie, zusammen für rund 70 Prozent der Treibhausgasemissionen in der EU verantwortlich, müssen höhere Ziele erreichen.

Was ist das Problem?
Zwar konnte Frankreich nicht durchsetzen, dass Atomkraft den Erneuerbaren gleichgestellt wird. Doch Staaten, die das allgemeine Ziel für 2030 erreichen, können zur Erfüllung des Industrie-Ziels auch Wasserstoff aus Atomkraft mit anrechnen. Frankreich weigert sich, Ausbauziele für Erneuerbare anzugeben und hält an einem kombinierten Ziel für Atomkraft und Erneuerbare fest.4

EU-Strommarktreform

Worum geht’s?
 
Die Reform des Elektrizitätsmarkt-Designs (EMD) vom Dezember 2023 soll Verbraucher*innen vor starken Preisschwankungen schützen und den Ausbau erneuerbarer Energien fördern. Staatliche Förderungen sollen durch „Differenzverträge“ ersetzt werden: Unterhalb einer vereinbarten Preisspanne zahlt der Staat die Differenz, oberhalb erhält er die Mehreinnahmen.


Was ist das Problem?
Die Mitgliedsländer entscheiden selbst, ob sie die neuen Förderinstrumente auch auf bestehende Anlagen anwenden. Frankreich und Polen haben durchgesetzt, dass sie sogar bestehende Atom- und Kohlekraftwerke fördern können – und verschaffen diesen Technologien so wirtschaftliche Vorteile, zum Nachteil des Klimaschutzes.

Net-Zero Industry Act (NZIA)

Worum geht’s?
Die Produktionskapazitäten für Erneuerbare innerhalb der EU sollen ausgebaut werden. 40 Prozent der Technologien, die es braucht, um die Klimaziele der EU zu erreichen, will die EU gemäß dem „Netto-Null-Industrie-Gesetz“ spätestens 2030 selbst herstellen.


Was ist das Problem?
In die Liste der „strategischen Netto-Null-Technologien“ wurde auf Druck Frankreichs auch die Atomkraft aufgenommen. Damit profitiert sie von beschleunigten Genehmigungsverfahren, vereinfachten Verwaltungsvorschriften und einer Priorisierung bei öffentlichen Ausschreibungen.

Europäische SMR-Industrieallianz

Worum geht’s?
Die im Februar von der Kommission ins Leben gerufenen Initiative will bis 2030 kleine modulare Reaktoren einführen, die EU-Lieferkette dafür stärken und mit qualifizierten Arbeitskräften versorgen.

Was ist das Problem?
Politische Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen fließen in Atomkraft statt in effektiven Klimaschutz. Über EU-Fördermittel könnte auch Deutschland neue AKW-Projekte mitfinanzieren.

Quellen

  1. Die Zeit 21.03.2024
  2. Ursula von der Leyen 21.03.2024
  3. Euractiv 22.02.2024
  4. Euractiv 20.12.2023
Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 61 (Juni-September 2024)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt im .ausgestrahlt-Magazin 61 "Atom-Streit in Europa"

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