Ukraine: Atomenergie bleibt eine Katastrophe

26.04.2024 | Jan Becker
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Foto: Alexander Tetsch

Foto: Riesenrad in Tschernobyl, seit 1986 steht es für immer still. Nun will die Ukraine mit einem neuen Atomprogramm "hoch hinaus". Das Risiko ist groß.

38 Jahre nach Tschernobyl, die Ukraine zwischen Krieg, AKW-Neubauplänen und Ruinen-Rückbau. Es sind Schlagzeilen zur fast gleichen Zeit aus demselben Land, die unterschiedlicher nicht sein können: Die Ukraine will ihre Atomwirtschaft ausbauen – und „Kampfdrohnen-Zwischenfall am AKW Saporischschja“.

Heute, am 26. April vor 38 Jahren kam es in Tschernobyl zu einem der schlimmsten Reaktorunfälle in der Geschichte. Block 4 explodierte, der Kern schmolz, wegen der radioaktiven Kontamination mussten über 300.000 Menschen umgesiedelt werden. Eine Fläche von 4.300 km² um den Reaktor herum (etwa 30 Kilometern im Umkreis) ist bis heute Sperrgebiet, ein „gefahrloses Leben“ wird dort noch lange unmöglich sein. Weit über 10.000 Quadratkilometer Land sind bis heute für die Landwirtschaft nicht nutzbar.

Schon kurz nach dem Unfall wurde über dem zerstörten Reaktor ein Sarkophag aus Stahl und Beton errichtet, der nur wenige Jahrzehnte hielt. Seit 2016 umschließt das „New Safe Confinement“, die größte bewegliche Konstruktion der Welt, den strahlenden Unfallort. Diese soll „Rückbau-Arbeiten“ im Innern ermöglichen; versprochen ist, dass keine strahlenden Partikel nach Außen entweichen können. Offizielle Pläne besagen, dass der Abbau des alten Sarkophags und des zerstörten Reaktors bis 2065 stattfinden sollen. Die Corona-Pandemie sorgte für Stillstand beim Rückbau des alten Sarkophags.

Unmittelbar nach Beginn des Krieges besetzten russische Soldaten das Gelände und beschädigten oder stahlen Anlagenteile und Ausrüstungen. Mehrere Monate ruhten alle Arbeiten. Wie auch in Fukushima wird hier bei der Beseitigung eines geschmolzenen Reaktors Pionierarbeit geleistet, die sich immer weiter verzögert und verteuert. Ein „Ende“ von Tschernobyl ist nicht in Sicht. Im Gegenteil wird Tschernobyl für immer eine Atommülldeponie bleiben, wo einerseits der Abbauschrott und der Atomabfall gelagert werden - andererseits sind die Böden rund um den Unfallort stark mit Cäsium-137 belastet. Spitzenwerte von bis zu 50.000 Kilobecquerel pro Quadratmeter wurden gemessen, was etwa 2.000-mal höher liegt, als der höchste in Deutschland gemessene Wert.

Sicherheitsrisiko Atomkraft

Russische Soldaten nutzen seit Kriegsbeginn „weltweit erstmalig“ Atomanlagen als Schutzschild und zur politischen Erpressung. Direkt auf dem Gelände einer aktiven Atomanlage fanden kriegerische Kampfhandlungen statt. Vor wenigen Tagen wurde ein erneuter Drohnenangriff nahe des Atomkraftwerks Saporischschja gemeldet, welches von Russland besetzt ist. Schon mehrfach soll es in dem AKW zu Unfällen gekommen sein, wegen zerstörter Leitungen ist der Strom ausgefallen, Notstromaggregate müssen die Reaktorkühlung übernehmen. Ein Spiel mit dem Feuer, die Welt hält immer wieder den Atem an.

Dieser Dramatik zum Trotz kündigte die Ukraine an, dass sie die Atomenergie „massiv ausbauen“ wolle. Insgesamt neun Atomreaktoren sollen gebaut werden, vier „Small Modular Reactors“. Als Partner zur Seite stehen wollen dafür die US-amerikanischen Konzerne Holtec und Westinghouse. Ein Rahmenabkommen über den Transfer von Holtec-Technologie wurde bereits unterzeichnet. Man wolle „nach dem Krieg die Wirtschaft ankurbeln“, Arbeitsplätze schaffen, die Ukraine sei auf dem Weg zu einem „Hub für Nukleartechnologien für ganz Europa“, so der ukrainische Energieminister.

Am Standort Chmelnyzkyj, der vom Krieg bisher weitgehend verschont geblieben ist, wurde vergangene Woche mit der Errichtung von zwei Reaktorblöcken begonnen. Doch seit 20 Jahren wurde in dem Land kein neuer Reaktor fertiggestellt, alle bisherigen Anlagen wurden mit russischer Unterstützung errichtet. Die Chmelnyzkyj-Projekte wurden 1986 und 1987 gestartet. Nun sind es US-Unternehmen, die diese Bauruinen „fertigstellen“ wollen. Expert*innen glauben nicht daran, dass das möglich ist, die Sicherheitsbedenken sind groß. Die Ukraine hat angekündigt, AKW-Bauverfahren zu beschleunigen. Die Gefahr, dass gängige Sicherheitsstandards in einem vom Krieg destabilisierten Land nicht eingehalten werden, liegt auf der Hand.

weiterlesen:

Online-Ausstellung "Fukushima, Tschernobyl und wir"  - Fakten und Folgen der beiden schlimmsten Reaktorunfälle bisher.

Tschernobyl – 37 Jahre nach dem Reaktorunfall
26.04.2023 - Immer wenn der Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl naht, schreiben wir diese Zeile, Jahr für Jahr: Nichts ist vorbei nach einem Super-GAU. Aktivist*innen wollen daran erinnern.

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986

Atomunfall – sicher ist nur das Risiko

Quellen (Auszug): taz.de, ingenieur.de, grs.de, ots.at

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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