Falsche Prognosen und großspurige Ankündigungen verzerren das Bild von Atomkraft und ihrer Bedeutung. Dahinter steckt Absicht – es geht um unser Geld. Der wahre Riese aber, der uns aus der Klimakrise führen kann, sind die erneuerbaren Energien.
Sie war sich bis auf die Nachkommastelle sicher: Atomkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 2.955,9 Gigawatt, das wären rund 3.000 Reaktoren, würden im Jahr 2017 in den USA laufen. Das prognostizierte die US-Atomenergiekommission AEC 1974, also vor 50 Jahren. Auf welche Annahmen auch immer sie sich dabei stützte – sie lag ziemlich daneben. Der Ausbau der Atomkraft kam in den USA schon vier Jahre nach der Prognose zum Erliegen. 2017 waren gerade einmal 95,6 Gigawatt Atomstrom am Netz, ein Dreißigstel der einst vorhergesagten Kapazität.
Auch in vielen Klimaszenarien, die heute publiziert werden, ist die Atomkraft scheinbar auf Expansionskurs. Ob Internationale Energieagentur (IEA/WEO), Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) oder Weltenergierat (WEC): Überall finden sich Schaubilder, auf denen die Atomkraft-Linie in der Zukunft deutlich oder sogar steil nach oben zeigt. Das schlägt sich selbst in den Berichten des Weltklimarats (IPCC) nieder. Die Szenarien in dessen sechsten Sachstandsbericht sagen im Schnitt eine Vervierfachung der Atomstromproduktion bis 2100 voraus. Es sind wohlgemerkt nur Annahmen, übernommene Prognosen, und keinesfalls Empfehlungen. Aber sie verfestigen ein Bild von einer Rolle und Bedeutung der Atomkraft, das genauso wenig real ist wie die Skizze, welche die AEC 1974 zeichnete.01
Erwartete und tatsächliche Entwicklung von Reaktorkapazitäten in den USA (1974)
In Gigawatt
Tatsächlich, und diese Zahlen sind unstrittig, stagniert die weltweite Atomstromproduktion seit zwei Jahrzehnten. Ihr Anteil an der Stromerzeugung hat sich seit 1996 halbiert, von 18 auf noch neun Prozent, Tendenz weiter fallend.02 Der Beitrag der Atomkraft zum Weltenergieverbrauch liegt aktuell bei um die zwei Prozent.03 Auch er sinkt seit Jahrzehnten.
Zu mickrig, um das Klima zu retten
Der Scheinriese Atomkraft ist nur in fernen Prognosen groß. Betrachtet man ihn von Nahem, ist er ziemlich unbedeutend. Er lebt davon, dass seine Fans große Pläne verkünden, und das auf möglichst großer Bühne. So wie unlängst auf der Klimakonferenz COP28 in Dubai. Vertreter*innen von zwei Dutzend Staaten kündigten da mit großem Tamtam und entsprechendem Presseecho an, sie wollten die weltweiten Atomkraftkapazitäten (Stand 2020) bis 2050 verdreifachen. Aber oh là là: Dafür müssten alle gut 400 derzeit laufenden Reaktoren weitere 30 Jahre am Netz bleiben – zuletzt gingen pro Jahr im Schnitt fünf außer Betrieb – und zugleich rund 800(!) weitere Reaktoren hinzukommen. Selbst ohne Abschaltungen wären das jedes Jahr rund 30 neue AKW und damit fünfmal so viel wie im Schnitt der letzten zehn Jahre. Das ist ziemlich unrealistisch. Doch vom Aufwand einmal abgesehen: Selbst wenn es gelänge, würde es den Atomkraft-Anteil an der Weltenergieproduktion nur um wenige Prozentpunkte erhöhen. Die Klimakatastrophe lässt sich so nicht stoppen.
Entwicklung von Atomenergie in ausgewählten Klimaszenarien
(in Terrawattstunden)
In der Realität müht sich Frankreich, Wortführer der Pro-Atom-Allianz, seit mehr als 16 Jahren, auch nur einen einzigen neuen Reaktor (Flamanville‑3) fertigzustellen und ans Netz zu bekommen. Schon heute ist der Fachkräftemangel in der französischen Atombranche so groß, dass selbst Wartungen und Instandsetzungen der vorhandenen Reaktoren nur mit zum Teil monatelangen Verzögerungen erledigt werden können. Die britische Regierung, auch sie mit großen Atom-Plänen, schlägt sich aktuell mit massiven AKW-Ausfällen herum. Mitten im Winter sind sechs von neun Reaktoren außer Betrieb, der Großteil davon ungeplant. Mit Fertigstellung der beiden Reaktoren in Hinkley Point C, genehmigt 2013, ist frühestens Ende des Jahrzehnts zu rechnen – allerdings nur, wenn die weitere Finanzierung gesichert werden kann. Und in den USA muss die Regierung Milliarden Dollar in die Hand nehmen, um auch nur ein paar längst abgeschriebene alte Reaktoren am Netz zu halten: Ohne Staatshilfen rechnet sich ihr Weiterbetrieb nicht mehr.04 Den „Atomkraft verdreifachen“-Vorstoß von Dubai wertet der vom ZDF interviewte Energiewende-Experte Sven Teske, ehemaliger Leitautor eines IPCC-Teilberichts, denn auch als „Nullnummer“ und „ökonomisch absolut chancenlos“.05
Der erneuerbare echte Riese
Im medialen Wirbel um die Atomkraft-Schaumschlägerei ging indes beinahe unter, worauf sich zeitgleich nicht bloß gut 20, sondern 180 Länder geeinigt haben: die Verdreifachung der Stromproduktion aus erneuerbare Energien, und zwar nicht binnen 30, sondern binnen sieben Jahren. Und das ist alles andere als unrealistisch. Weltweit gingen allein im vergangenen Jahr erneuerbare Energien mit einer Kapazität von 510 Gigawatt ans Netz, anderthalbmal so viel wie die gesamte installierte AKW-Kapazität weltweit.
Vor allem aber, und das verdeutlicht die Dynamik und Wucht des Erneuerbaren-Booms, ist der Zubau 2023 anderthalbmal so groß wie 2022.06 Bei den Investitionsentscheidungen lagen die erneuerbaren Energien 2022 um Faktor zehn vor Atomkraft, Tendenz auch hier stark steigend. Die Investitionen in Atomkraft hingegen stagnieren seit Jahrzehnten (siehe Infografik). Der Grund dafür ist simpel und alles andere als neu: Atomkraft rechnet sich nicht.
Consulting Nuclear Electricity Production 1985-2022 in the World ...
Keine einzige private Bank, erläutert Teske, stecke noch Geld in den Neubau von Atomkraftwerken. Wer AKW bauen wolle, müsse diese also staatlich finanzieren. Kein Wunder, dass die Atomlobby und die Regierungen, die weiter auf Atomkraft setzen, seit Jahren an allen Ecken und Enden dafür kämpfen, Atomkraft Zugang zum Kapitalmarkt und vor allem zu öffentlichen Geldtöpfen zu verschaffen. Die Behauptung, Atomkraft sei nützlich und wichtig im Kampf gegen die Klimakatastrophe – auch wenn das Gegenteil der Fall ist (siehe Artikel "Atomkraft schadet dem Klima") – soll dafür die Tür öffnen, die fortwährende Schaumschlägerei sie möglichst weit aufdrücken.
Einige Erfolge können die Atom-Fans schon verbuchen, von der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen über diverse atomkraftfreundliche Entscheidungen der EU zum Strommarkt, zum Net Zero Industry Act und zu grünem Wasserstoff bis hin zum jüngsten Versuch, alle möglichen EU-Töpfe für Subventionen zur Entwicklung sogenannter Small Modular Reactors (SMR) zu öffnen.
Am Ende könnten die Steuerzahler*innen zig Milliarden für kostspielige neue AKW und absurde Minireaktor-Phantasien zahlen. Dafür bekommen wir, sollten wirklich Reaktoren gebaut werden: mehr Atom-Risiko (ja, es wird weitere Unfälle geben), mehr Atommüll (um den wir uns und die nachfolgenden Generationen sich dann kümmern dürfen), ökonomisch, politisch und technisch schlechtere Bedingungen für erneuerbare Energien (also weniger sehr günstigen Strom). Vor allem aber wird es uns beim Kampf gegen die Klimakrise nichts nützen.
Quellen
- DIW Wochenbericht 44/2023, „Energie- und Klimaszenarien gehen paradoxerweise von einem starken Ausbau der Atomenergie aus“.
- World Nuclear Industry Status Report 2023, Abb. 2, „Nuclear Electricity Generation in the World … and China“. .
- REN21, Renewables 2023 Global Status Report. Supply Data Pack, Fig. 2, 2023.
- World Nuclear Industry Status Report 2023, United States Focus, „Securing Subsidies to Prevent Closures“.
- ZDF heute, „Ökonomisch eine absolute Nullnummer“, Interview mit Prof. Sven Teske, 14.12.2023.
- IEA, „Massive expansion of renewable power opens door to achieving global tripling goal set at COP28“, 2024.
weiterlesen:
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- Zweifel säen
29.11.2023: Die Atom-Lobby bemüht sich weiter, den Atomausstieg in Misskredit zu bringen und Zweifel an der Energiewende zu säen. Fragen und Antworten.