„Das war eine Frage, die ihnen nicht so passte“

26.06.2023 | Anna Stender
Herman Damveld
Herman Damveld
Foto: privat

Herman Damveld (77) ist unabhängiger Wissenschaftsjournalist. Er spielte eine wichtige Rolle beim Widerstand gegen die Lagerung von radioaktiven Abfällen in Salzstöcken im Norden der Niederlande. Heute unterstützt er die Gegner*innen des AKW Borssele, das auch als Standort für neue Reaktoren im Gespräch ist. Ein Porträt.

Herman Damveld im .ausgestrahlt-Podcast über Atomkraft in den Niederlanden:

In der Provinz Groningen fand vor kurzem eine Veranstaltung mit allen politischen Parteien statt. Dabei ging es auch um die steigenden Energiekosten und was man in den nächsten zwei oder vier Jahren dagegen tun kann. Zu meinem Erstaunen sagten einige Politiker: „Neue Atomkraftwerke bauen.“ Als ich wissen wollte, wie lange der Bau dauert und wie man die radioaktiven Abfälle lagern wolle, ließ man die Frage nicht zu. Niemand musste dazu Rede und Antwort stehen! Das war eine Frage, die ihnen nicht so passte.

Im Moment plant die niederländische Regierung, in Borssele in der Provinz Zeeland zwei neue AKW zu bauen. Außerdem will sie die Laufzeit für das bestehende AKW Borssele verlängern, statt es wie geplant 2033 abzuschalten. Es wurde von Siemens/KWU gebaut und ist seit fast 50 Jahren in Betrieb.

Ich selbst wohne in Groningen, am anderen Ende der Niederlande, in der Nähe von Eemshaven. Das war bis vor einigen Monaten auch in der Diskussion als möglicher AKW-Standort. Doch unser Wirtschaftsminister Rob Jetten hat entschieden, die Atomkraft am Standort Borssele zu konzentrieren. Er ist von der Partei „Democraten 66“. Die hat vor der letzten Wahl in ihr Wahlprogramm geschrieben, dass sie nicht in neue AKW investieren will.

„Nach etwa einem Jahr würde die See die Tore aufdrücken und die Atommüll-Fässer in die Nordsee schwemmen.“

In den Niederlanden ist etwa die Hälfte der Menschen für Atomenergie, die andere Hälfte dagegen. Als ab 1969 Planung und Bau des AKW Borssele liefen, gab es viel Protest. Und nach dem Atomunfall in Harrisburg 1979 fanden große Demos statt. Doch wenn man nichts ändern kann, sehen viele nur zwei Möglichkeiten: wegziehen oder sich an die Situation gewöhnen. 1986 wurden die Pläne für neue AKW gestrichen. Viele Aktive haben sich dann für Wind- oder Sonnenenergie eingesetzt, der Anti-Atom-Widerstand flaute ab. Die Neubau-Pläne gibt es erst seit zwei Jahren. Daraufhin sind einige wieder aktiv geworden und es haben sich neue Gruppen gebildet.

In der Provinz Groningen waren fast alle Behörden gegen den Bau eines AKW. Die Regierung dachte, in Zeeland gebe es dafür eine breite Unterstützung, und hat Kompensationsmaßnahmen versprochen. Sie teilte ein Formular aus, wo man ankreuzen konnte, welche Art Kompensation man sich wünscht. Aber man konnte nicht auswählen, dass man gar kein AKW will. Also haben Gegner des AKW-Baus ähnliche Formulare verteilt. Darauf stand dann zum Beispiel: „Wir wollen eine breite Diskussion über die Atomenergie.“

In etwa drei Jahren sollen die Genehmigungen für zwei neue AKW vorliegen, die dann zwischen 2035 und 2040 ans Netz sollen. EDF aus Frankreich hat Interesse gezeigt, die AKW zu bauen. Doch finanziell wird das noch Probleme geben, weil ein Energieversorger nicht auf eigene Faust AKW finanzieren kann. Deshalb soll Hinkley Point C als Vorbild dienen. In Großbritannien müssen die Leute auf ihre Stromrechnung einen Aufschlag zahlen, um den Bau des neuen Reaktors zu finanzieren. Betrachtet man die Baukosten für AKW, sind etwa 50 Prozent Finanzierungskosten. Reicht man die von Anfang an durch an die Stromkund*innen, dann wird es für die Elektrizitätsversorger billiger – weil andere die Kosten tragen. Ob die AKW am Ende gebaut werden, ist noch nicht entschieden. Bis jetzt sind das politische Pläne. Wenn es keine gesellschaftliche Akzeptanz gibt, können sie in zwei Jahren wieder gestoppt werden.

Aktionen gegen die Neubaupläne, mit vielen Leuten auf der Straße, gab es bisher nicht. Da machen nicht so viele Menschen mit. Aber Gruppen aus Zeeland, „Borssele tot de Kern“ und „Stroom naar de Toekomst“, lesen sich in die Unterlagen ein. Vor kurzem fanden durch das Wirtschaftsministerium organisierte Infoveranstaltungen statt. Dort haben sie ihre Argumente gegen die Pläne vorgetragen und dann den Saal verlassen.

„Die Regierung fragte, welche Art Kompensation man sich wünsche. Aber man konnte nicht auswählen, dass man gar kein AKW will.“

Eine der Gruppen war von Anfang an gegen neue AKW. Die andere hat sich gefragt, was passiert hier eigentlich, welche Argumente werden genutzt und stimmt das eigentlich alles? So wie ich das wahrnehme, sind auch diese Leute im Laufe der Zeit kritischer geworden gegenüber der Atomenergie. Da ich in Groningen wohne, bin ich nicht selbst in Borssele aktiv. Ich unterstütze die Menschen dort, indem ich Informationen sammle und publiziere.

Ein Thema ist natürlich auch, was mit den radioaktiven Abfällen passiert. Gleich neben dem AKW Borssele liegt das Zwischenlager „Covra“. Die Zwischenlagerung soll 100 Jahre dauern. Doch wenn die Laufzeit des AKW verlängert wird und zwei neue AKW gebaut werden, muss auch das Zwischenlager erweitert werden.

Ein großes Problem ist, dass es außerhalb des Deiches liegt. 2000 gab es eine Studie der Atomlobby zu der Frage, ob es zu einer Überschwemmung kommen kann. Bei der Halle für den hochradioaktiven Müll ist der Untergrund höher aufgeschüttet. Aber man kam zu dem Schluss, dass eine sehr lange dauernde Überschwemmung in der Halle für schwach- und mittelradioaktive Abfälle möglich ist. Nach etwa einem Jahr würde die See die Tore aufdrücken und die Atommüll-Fässer in die Nordsee schwemmen. Weil das Meerwasser viel Salz enthält, würden diese korrodieren und die radioaktiven Abfälle freisetzen.

Heute weiß man, dass der Meeresspiegel deutlich stärker steigen wird als in der Studie angenommen. Es gibt viele Fragen dazu, die bis heute niemand beantwortet hat. Auch was die radioaktiven Abfälle angeht, gibt es also Unruhe in der Region.

In den 1970er Jahren gab es viel Widerstand gegen die geplante Endlagerung im Salz im Norden der Niederlande. Ich habe da auch einiges beigetragen. Es war ja zunächst so, dass die Atommüllkippe Asse II als Vorbild für die sichere Endlagerung galt. Ich bin dort gewesen, 750 Meter unter der Erde, und konnte mir anschauen, wie es dort aussieht. Als bekannt wurde, dass Wasser an die Fässer in der Asse kam, sahen die Menschen und Behörden hier ihre Sichtweise bestätigt, dass die Lagerung im Salzstock bei uns nicht sicher ist. Danach diente der Salzstock in Gorleben als Vorbild. Auch dort war ich, in 900 Metern Tiefe. Auch dieser Standort wurde aufgegeben.

Auch die Endlager-Pläne in den Niederlanden konnte man nicht durchziehen. Trotzdem denkt die Regierung, dass sich das Problem schon irgendwie lösen wird. Deshalb muss beim AKW Borssele nur wenig Geld auf die hohe Kante gelegt werden für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Das Argument ist, dass das Geld investiert wird und dass es wegen der Rendite in 100 Jahren viel mehr sein wird.

Minister Jetten ist schon bewusst, dass es ein Problem gibt mit den radioaktiven Abfällen. Aber er meint, dass kommende Generationen das lösen werden. Genauso ist es mit dem Klima gelaufen: Schon in den 1970er Jahren gab es Studien zu Klimaveränderungen. Jahrzehntelang setzte die Regierung darauf, dass man noch viel Zeit hat. Jetzt sind die Probleme da!

Und wir bauen wieder AKW? Schieben die Endlagerung weiter auf die Zukunft? Ich sehe das so: Wir können nicht weitermachen wie bisher. Dieser verschwenderische Energieverbrauch ist nicht mehr haltbar. Man sucht dann immer eine Lösung, bei der man das eigene Verhalten nicht ändern muss. Deswegen wird dann gesagt, dass man AKW brauche. Atomenergie ist seit Jahrzehnten eine „Lösung“, die manche herbeisehnen, um ihr Verhalten nicht überdenken zu müssen.

Protokoll: Anna Stender, Bettina Ackermann

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 58 (Juni/Juli/Aug. 2023)

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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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