Bewegungsforscher Dieter Rucht über Fachkunde, Ausdauer, Zusammenhalt und Wirkmacht der Anti-AKW-Bewegung – und wer sich deren historische Erfolge zugutehalten darf.
Herr Rucht, 50 Jahre nach den ersten Massenprotesten gegen Atomkraft sind die letzten drei AKW vom Netz gegangen. Ein großer Erfolg der Anti-AKW-Bewegung – oder eher ein mäßiger, weil es so lange gedauert hat?
Dieter Rucht: Ein großer Erfolg. Viele andere Länder haben den noch nicht zu verzeichnen.
In den 1970ern galt Atomkraft als fortschrittlich, alle politischen Parteien waren für den Bau von AKW und die Stromkonzerne haben jahrzehntelang Milliarden damit verdient. Wie haben die Anti-Atom-Bewegten es geschafft, sich dagegen durchzusetzen?
Mit ihrem sehr beharrlichen Widerstand. Zunächst haben sie auf publizistischem Wege versucht, die Atomenergienutzung zum Problem zu machen. Die fachliche Kritik kam aus Wissenschaftskreisen, insbesondere den USA. Nur gab es damals dafür kaum einen Resonanzboden. Man musste erst einmal Aufmerksamkeit schaffen, Fragen und Einwände formulieren.
So wie in Wyhl am Kaiserstuhl, wo Atomkraftgegner*innen 1975 einen AKW-Bauplatz besetzten?
Eigentlich war schon Breisach 1971 der Auftakt, 20 Kilometer weiter südlich. Da sollte das AKW zunächst gebaut werden, und dort gab es bereits sehr viel Unruhe und Unterschriftensammlungen. Das war dann der Grund für die Verlegung nach Wyhl.
Wo der Protest nicht geringer war.
Die Betreiber haben die Einwände nicht ernst genommen. Die Leute vor Ort hatten den Eindruck, sie sollten nur belehrt werden – wie Deppen, denen man die Vorteile der Atomkraft nahebringen muss. Selbst konservative Gruppen hatten Zweifel und gingen schließlich zum Widerstand über. Auf einmal war klar, dass das nicht nur ein Protest von Außenseitern ist.
Welche Bedeutung hatten Aktionen wie die Platzbesetzung?
Das war schon bemerkenswert und einmalig bis zum damaligen Zeitpunkt, dass so viele daran teilgenommen haben. Und dass sie monatelang geblieben sind. Am Ende hat die Landesregierung mit den Platzbesetzer*innen verhandelt.
Braucht eine Bewegung solche Aktionen, um politisch wirkmächtig zu werden oder zu bleiben?
Manchmal bringt schon die schlichte Diskussion die Politik zum Umschwenken. Manchmal werden Dinge ausgesessen. Und manchmal schafft erst die Verknüpfung von freundlichem, bravem Widerstand mit offensiveren Methoden so viel Druck, dass die Politik einlenkt. Vorausgesetzt, die Bewegung lässt sich nicht auseinanderdividieren.
Sowohl in Gorleben als auch in Wackersdorf hat die Politik das versucht. Mit Erfolg?
Nein. In Wackersdorf hat auch der Landrat eine zentrale Rolle gespielt. Der war sehr angesehen, und deshalb war es schwierig, den Widerstand insgesamt zu diskreditieren. Und im Wendland haben die örtlichen Bürgerinitiativen klug operiert und es geschafft, an keiner Stelle die Bewegung auseinanderfallen zu lassen. Sie haben auch gegenüber den Unterstützer*innen aus den Städten und Unis den Rahmen bestimmt. So blieb es im Gesamtbild ein entschlossener und zugleich in seinen Formen friedlicher Widerstand, hinter dem der überwiegende Teil der Bevölkerung stand. Das war die Stärke, diese lokale Verankerung und die Vielfalt der Aktionen.
Manche Historiker*innen sagen, die Atomkraft habe sich selbst das Bein gestellt, weil sie die eigenen Probleme, insbesondere die Gefahr eines schweren Unfalls, nicht in den Griff bekommen hat.
Sie konnte ihre eigenen Versprechen, was Sicherheit und Kosten angeht, jedenfalls nicht einlösen. Es war aber die Anti-AKW-Bewegung, die erheblich zu den Kostensteigerungen und damit zur Unwirtschaftlichkeit der Atomkraft beigetragen hat, weil Sicherheitsanforderungen erhöht wurden. Die Reaktorummantelungen mussten dicker werden, die Sicherheitssysteme umfangreicher und redundanter ausgestaltet werden. Auch wurde die Entsorgungsfrage zur Vorbedingung für den Weiterbetrieb erklärt. Die Unternehmen haben daher in der späteren Phase bereits gezögert, in großem Stil neue Reaktoren in Gang zu setzen.
Welche Rolle spielten die erneuerbaren Energien in der Auseinandersetzung?
Eine wichtige. Nur gegen Atomkraft zu sein, wäre kein guter Weg gewesen. Sehr früh haben sich Leute, Anstöße aus den USA aufgreifend, daran gemacht, über Alternativen nachzudenken. Der Impuls, diese „soft energies“ als Möglichkeit zu nutzen, und der Druck, ihre Entwicklung zu fördern, kam ganz wesentlich aus der Anti-Atom-Bewegung.
War es frech in den 1970ern, die Atomkraft in Frage zu stellen?
Frechheit an sich war nichts Neues, die spielte schon bei Bauernbewegungen vor Jahrhunderten eine Rolle. Aber bei Atomkraft ging es um Kritik an einer Technologie, und das galt bis dahin immer als Domäne der Fachleute, aus der man sich rauszuhalten hatte. Auch ich dachte noch in der ersten Hälfte der 1970er Jahre: Ich bin kein Atomphysiker, also kann ich mir kein Urteil darüber erlauben. In so ein hoch komplexes Gebiet einzusteigen und zu sagen, das klappt nicht, das ist unsicher, das ist unwirtschaftlich – das wurde als Anmaßung empfunden. Aber es gab das Selbstbewusstsein und ja auch Unterstützung aus der Wissenschaft. In den USA etwa hatte sich 1969 die „Union of Concerned Scientists“ gegründet. Die haben zwar Minderheitsmeinungen vertreten, aber sie mussten doch ernst genommen werden, weil sie auf Höhe der Zeit waren und gute Argumente hatten. Ähnlich ist das dann in Deutschland auch passiert, wobei die Wissenschaftler*innen hier nicht mehr ganz so zentral waren, weil auch schon innerhalb der Bewegung das Know-how gewachsen war.
Wie hat die Politik auf die Kritik reagiert?
Sie dachte, sie könne den Widerstand überwinden. Wichtig war in diesem Zusammenhang der „Bürgerdialog Kernenergie“, den sie ins Leben rief, um die bröckelnde Zustimmung zur Atomkraft wiederherzustellen – und der genau das gegenteilige Ergebnis brachte: Die Leute wurden zunehmend fachkundig und auch kritischer. Zwar waren die Atomkraftgegner*innen weiterhin in der Minderheit, diese aber wuchs: Noch vor der Katastrophe von Tschernobyl gab es bereits eine atomskeptische Mehrheit.
Am Ende waren es Beschlüsse des Bundestags, die das Aus für die Atomkraft besiegelten. Waren diese eine natürliche Folge des Meinungswandels?
Nein. Ein Meinungswandel ist noch nicht per se der entscheidende Faktor, um die Politik zu einem Schwenk oder einer Abkehr zu bewegen, das hat man ja auch bei den Friedensdemos in den frühen 1980ern gesehen; die hat die Politik einfach ausgesessen. Bei der Atomkraft kamen zum Meinungsumschwung mehrere Faktoren hinzu: Die massiven Demos an den Bauzäunen einiger AKW, Brokdorf, Grohnde, Kalkar, die den Widerstand stärker, vehementer, sichtbarer machten, weil die Massenmedien sich auf diese „Schlachten“ stürzten. Die wissenschaftliche Kritik, die breiter wurde. Kritik auch von interner Seite der Atomindustrie. Die alte Gegnerschaft zwischen Gewerkschaften und Umweltschützer*innen weichte auf; Teile der Gewerkschaften positionierten sich gegen Atomenergie. Auf vielen Feldern also kam das Ganze erst in Bewegung und dann ins Rutschen. Der Super-GAU in Tschernobyl 1986 bedeutete dann nochmal einen zusätzlichen Stoß, der dann auch die SPD mehrheitlich umschwenken ließ. Am Ende waren es viele Faktoren, die das scheinbar so festgefügte Atom-Gebäude zum Einsturz gebracht haben.
Und wer kann sich diesen Erfolg nun auf die Fahne schreiben?
All diejenigen, die zumindest phasenweise, manche auch durchgängig über Jahrzehnte hinweg, einen enormen Einsatz erbracht haben. Nicht nur die, die auf Demos gegangen sind oder bei bestimmten Aktionen Risiken in Kauf genommen haben. Sondern auch all jene, die sich sachkundig gemacht haben, die in der Familie, im Freundeskreis, unter Kolleg*innen für die Sache eintreten sind, dafür geworben haben. Das sind alles Leute, die ihren Beitrag geleistet haben an ganz unterschiedlichen Plätzen, in unterschiedlicher Weise, in unterschiedlichen Teilgebieten. Und aus dieser Summe ergibt sich dann die Wirkung der Bewegung. Jede/r kann sich sozusagen einen kleinen Teil an dem großen Erfolg gutschreiben.
Interview: Armin Simon
Dr. Dieter Rucht, Prof. em. für Soziologie, ist Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Er erforscht seit über 40 Jahren Protestbewegungen im In- und Ausland.
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