Mit dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland ist das Risiko eines großen Unfalls hierzulande deutlich gesunken. Doch Strahlung macht vor Grenzen keinen Halt. Von Schrottreaktoren, Laufzeitverlängerungen, Neubauplänen und Lobbyismus in Deutschlands Nachbarländern.
Ende Februar gründen elf europäische Länder unter französischer Federführung eine neue "Nuklearallianz". Das Ziel: eine verstärkte Kooperation im Bereich der Atomenergie. Konkret geplant ist, neue gemeinsame Projekte zu fördern und in den Bereichen Forschung und Sicherheit eng zu kooperieren. Dabei sind neben Frankreich auch Bulgarien, Kroatien, Finnland, Ungarn, Polen, die Tschechische Republik, Rumänien, die Slowakei, Slowenien und Schweden. Italien und die Niederlande sind bei der Allianz mit Beobachterstatus dabei. Trotzdem ist es mit der vermeintlichen Renaissance der Atomkraft in Europa, von der die deutschen Medien rund um den 15. April berichten, nicht weit her.
Hier die Situation bei Deutschlands Nachbarn im Kurzüberblick:
Frankreich
Frankreich hat mit 56 Atomkraftwerken mit Abstand die meisten in der EU. 2021 deckten sie fast 70 Prozent des Strombedarfs im Land. Bis 2028 erreichen 46 von ihnen die ursprünglich geplante Betriebsdauer von 40 Jahren. Mangels Alternativen will die Regierung die Laufzeiten um zehn Jahre verlängern, obwohl sich die Ausfälle wegen technischer Schwierigkeiten bereits jetzt häufen. Auch grenznahe AKW wie Cattenom hatten zuletzt massive sicherheitsrelevante Korrosionsprobleme. Die erforderlichen Nachrüstungen werden landesweit bis 2030 schätzungsweise 100 Milliarden Euro kosten. Trotz der massiven technischen und finanziellen Probleme setzt die Regierung weiter auf Atomenergie und hegt sogar Ausbaupläne für seine alternde Atomflotte. Sechs neue Atomkraftwerke will die Regierung bauen, die Errichtung von acht weiteren bis 2050 prüfen. Gut läuft der Neubau von AKW allerdings bisher nicht: Der neue EPR, der bereits seit 2012 in Flamanville laufen sollte, ist noch immer nicht fertig. Nach aktuellen Schätzungen wird er mehr als 13 Milliarden Euro kosten – mehr als viermal so viel wie geplant. Den enormem Finanzbedarf für sein Atomprogramm kann der hoch verschuldete Staatskonzern EDF nicht stemmen und hofft deshalb auf EU-Mittel. Frankreich setzt sich auf EU-Ebene – teils erfolgreich – dafür ein, dass Atomenergie als "grün" deklariert wird. Weil die zivile Atomindustrie die nuklearen Luft- und Seestreitkräfte quersubventioniert, ist ein Atomausstieg für Frankreich keine Option.
Nahe Bure, einem kleinen Dorf unweit des Saarlandes, soll das zentrale französische Atommüll-Endlager „Cigéo“ entstehen. In einer ersten Phase sollen dort bis 2034 etwa 80.000 Kubikmeter hochradioaktiver Müll eingelagert werden. Die Zeit drängt, denn das Zwischenlager in La Hague ist bereits übervoll.
Polen
Polen plant den Einstieg in die Nutzung der Atomenergie. Anfang November 2022 hat Polens Regierung dem US-Konzern Westinghouse den Zuschlag für den Bau des ersten AKW im Land gegeben. Die Baukosten sollen umgerechnet 18,6 Milliarden Euro betragen. Der Standort wird wahrscheinlich die Gegend von Kopalino-Lubiatowo an der Ostseeküste unweit von Danzig sein, etwa 250 Kilometer von der deutschen Grenze. 2033 soll der erste Reaktorblock in Betrieb gehen. Danach soll alle zwei Jahre ein weiterer Reaktorblock seinen Dienst aufnehmen, bis es 2043 insgesamt sechs an zwei Standorten sind. Dabei ist bis jetzt noch unklar, wie die Atompläne finanziert werden sollen. Wie in Frankreich spekuliert man offenbar auf EU-Mittel. Die vier Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin haben Polen aufgefordert, das Vorhaben zu stoppen. Es wäre nicht Polens erster gescheiterter Versuch, ein Atomkraftwerk zu bauen. Unweit des geplanten Standorts steht in Żarnowiec bereits eine riesige Bauruine des in sozialistischer Zeit geplanten, aber nie fertiggestellten AKW. Weitere AKW sind ebenfalls geplant, eines in Kooperation mit Südkorea, das andere mit Frankreich. Interessanterweise sind die USA und Südkorea auch wichtige Rüstungspartner von Polen. Aktuell deckt heimische Braun- und Steinkohle 70 Prozent des Strombedarfs – doch die Vorräte werden nicht mehr lange reichen.
Niederlande
Das Atomkraftwerk Borssele läuft seit 1973 und ist das letzte von ursprünglich zwei AKW in den Niederlanden. Mit einer Leistung von knapp 500 Megawatt erzeugt es deutlich weniger Strom als neuere AKW. Zur gesamten Erzeugungskapazität des Landes trägt es lediglich drei Prozent bei. An dem Kraftwerk hält der deutsche Energiekonzern RWE einen Anteil von 30 Prozent. Ursprünglich sollte es 2004 vom Netz, doch aktuell ist ein Betrieb bis 2034 geplant. Die regierende Koalition will die Laufzeit sogar noch darüber hinaus verlängern. Die Regierung hat 5 Milliarden Euro bereitgestellt, um den Bau von zwei weiteren Reaktoren am Standort Borssele vorzubereiten. Alternativ kommt möglicherweise auch ein Standort bei Rotterdam infrage. Die Entscheidung soll voraussichtlich bis Ende 2024 fallen.
Die Grenzregion zu den Niederlanden ist ein „Hotspot“ der europäischen Atomindustrie: Hier stehen die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlagen in Gronau und Almelo (NL).
Belgien
Belgiens Atompark umfasst aktuell fünf Reaktoren an zwei Standorten: Doel bei Antwerpen und Tihange bei Liège/Lüttich. Eigentlich hatte das Land 2003 per Gesetz beschlossen, seine AKW nicht länger als 40 Jahre laufen zu lassen und damit bis 2025 schrittweise aus der Atomenergie auszusteigen. Doch diese Entscheidung wurde immer wieder infrage gestellt. Obwohl man in Tihange 2 und Doel 3 Risse im Reaktordruckbehälter fand, durften die Reaktoren zunächst weiterlaufen. Erst im September 2022 (Doel 3) und im Januar 2023 (Tihange 2) gingen sie vom Netz. Nach Beginn des Ukraine-Krieges einigten sich die belgische Regierung und der Betreiber Engie 2022 im Grundsatz darauf, dass Tihange 3 und Doel 4 bis Ende 2035 weiterlaufen sollen. Die Bedingungen sind noch nicht klar, Engie will sich die Laufzeitverlängerung teuer bezahlen lassen. Die drei übrigen Reaktorblöcke sollen nach aktuellem Stand wie geplant nach 40 Betriebsjahren im Jahr 2025 vom Netz gehen. Das Risiko für die Region ist erst weg, wenn auch der letzte Reaktor abgeschaltet ist, denn die belgische Atomaufsicht ließ Reaktoren in der Vergangenheit sogar mit nachgewiesenen Sicherheitsmängeln weiterlaufen.
Nachdem Belgien seinen Atommüll zunächst im französischen Endlager unterbringen wollte, läuft aktuell ein Verfahren zur Endlagersuche im Land selbst. In der ersten Runde sind sieben Standorte im Rennen, zwei davon in Grenznähe.
Schweiz
Die Schweiz betreibt aktuell vier Reaktorblöcke an den Standorten Beznau, Leibstadt und Gösgen, die 2021 etwa 29 Prozent zur Gesamtstromerzeugung in der Schweiz beitrugen. Das AKW Mühleberg wurde 2019 abgeschaltet. Der erste kommerziell genutzte Reaktorblock ging 1969 in Beznau in Betrieb und läuft bis heute. Alle drei Standorte liegen unweit der deutschen Grenze. Bisher scheiterte jede Gesetzesinitiative, die sich für einen Atomausstieg oder eine Laufzeitbegrenzung einsetzte. 2017 wurde der Neubau von Atomkraftwerken per Gesetz verboten. 2022 entstand eine Initiative, die erreichen will, dass das Neubauverbot aufgehoben wird. Doch diese hat vorerst wenig Aussicht auf Erfolg.
Im September 2022 gab die Schweizer Atomaufsicht INSI bekannt, dass das Schweizer Endlager in der Region Nördlich Lägern an der Grenze zu Baden-Württemberg entstehen soll. Dabei hatte die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) den Standort 2015 zunächst für ungeeignet erklärt. Nur auf Betreiben der INSI blieb der Standort im Verfahren. Das weckt Zweifel daran, ob er wirklich geeignet ist, und macht ihn juristisch angreifbar.
Tschechien
Tschechien betreibt aktuell sechs Reaktorblöcke an zwei Standorten: vier in Dukovany und zwei in Temelín. Das AKW Temelín liegt knapp 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, das AKW Dukovany rund 100 Kilometer nördlich von Wien.
Die tschechische Regierung will die Atomkraft ausbauen und den Anteil an der Stromproduktion bis 2040 auf einen Anteil von mehr als 50 Prozent erhöhen. Im März 2022 startete die Ausschreibung für einen fünften Block in Dukovany. In Temelín sollen ebenfalls zwei zusätzliche Reaktorblöcke entstehen.
In den nächsten Jahren will die Endlagerverwaltung für radioaktive Abfälle (SÚRAO) vier mögliche Standorte für ein Atommüll-Endlager geologisch erkunden. Die Antragsverfahren laufen. Bis 2028 soll die Entscheidung fallen.
SMR-Pläne aktuell nicht konkret
Einige Nachbarländer, darunter die Niederlande, Frankreich und Tschechien, haben Interesse an kleinen modularen Reaktoren gezeigt. Doch die Konzepte sind nicht ausgereift, so dass man vielerorts Erfahrungen mit der Technik in anderen Ländern abwarten will. Die Einschätzung von Experten ist derzeit, dass es noch Jahrzehnte dauern kann, bis ein solcher Reaktor serienreif ist – wenn es überhaupt so weit kommt.
Reale Gefahr
Einige der Projekte in den Nachbarländern haben sich in den letzten Jahren und insbesondere seit Beginn des Ukraine-Kriegs konkretisiert. Das ist insofern erstaunlich, als die vorgeblichen Ziele nicht erreicht werden. Der Bau von Atomkraftwerken trägt nicht nennenswert zum Klimaschutz bei. Er führt auch führt nicht zu mehr Energieunabhängigkeit – in Europa wird kein Uran mehr abgebaut. Nicht einmal finanziell ist Atomkraft attraktiv, eine private Finanzierung daher kaum machbar. Stattdessen wollen die Länder, die auf Atomkraft setzen, jetzt Gelder aus dem Green New Deal abzapfen, die für den grünen Umbau der Wirtschaft vorgesehen sind. Ob neue Reaktoren am Ende wirklich gebaut werden, bleibt abzuwarten. In jedem Fall ist der Lobbyismus auf EU-Ebene eine reale Gefahr für den Klimaschutz.
Es bleibt also viel Arbeit für die Anti-AKW-Bewegung. Es gilt zu verhindern, dass Atomkraftwerke auf europäischer Ebene weiter die Energiewende ausbremsen. Geld, das für die Energiewende dringend gebraucht wird, darf von der Atomlobby nicht in Atomprojekte umgeleitet werden. Denn bei der Bewältigung der Klimakrise spielen sie keine Rolle. Dafür sorgt schon der Faktor Zeit. Bis ein neues AKW ans Netz geht, dauert es realistischerweise 10 bis 20 Jahre. Für wirksamen Klimaschutz ist das viel zu spät.
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