Tschernobyl – 37 Jahre nach dem Reaktorunfall

26.04.2023 | Jan Becker
Foto: Alexander Tetsch

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl jährt sich bereits zum 37. Mal. Und jedes Jahr erinnert .ausgestrahlt daran, dass ein Super-GAU nicht einfach nach ein paar Jahren vorbei ist. Aktivist*innen veranstalten heute Mahnwachen in mehreren deutschen Städten.

Jahr für Jahr erinnert .ausgestrahlt an den Super-GAU von Tschernobyl als einen der größten Einschnitte der Menschheit, eine tiefe Zäsur in dem Glauben, Atomenergie sei „sicher“. Letztes Jahr standen alte Risiken sogar wieder ganz aktuell im Mittelpunkt: Russland hatte die Ukraine angegriffen, Soldaten hatten in der „Todeszone“ rund um Tschernobyl gegraben und wurden verstrahlt, 36 Jahre nach der Havarie von Reaktorblock 4.

Heute hat der Krieg, auch wenn in der Region um Tschernobyl keine direkten Kampfhandlungen mehr stattfinden, seine Spuren hinterlassen. Die Arbeiten vor Ort mussten für Monate gestoppt werden. Laufende Projekte, wie etwa die Planungen für ein zentrales Zwischenlager für den Atommüll, wurden ausgesetzt und mussten neu bewertet werden. Beschädigtes oder zerstörtes Equipment musste ersetzt oder repariert werden. Die Fernüberwachung der Radioaktivität war wochenlang außer Betrieb. Unter der 2019 fertiggestellten Hülle um den zerstörten Block 4 finden erste Arbeiten für den Abbau des Reaktors statt. Geplant war, zunächst „instabile Strukturen“ des alten Sarkophags bis Ende 2023 abzubauen. Der Krieg verzögert diese Arbeiten.

„Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und zuletzt der Krieg in der Ukraine zeigen, dass Atomkraftwerke eine nicht beherrschbare Gefahr für Mensch und Natur darstellen“, kommentierte Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, die Situation vor einem Jahr.

„Vor 37 Jahren hinterließ ein Unfall auf dem AKW Tschornobyl eine riesige Narbe für die ganze Welt. Der Austritt von Radioaktivität verwandelte ein frühes gemütliches und entwickeltes Gebiet in eine Sperrzone. Heute bleibt die 30 Kilometer Zone um das AKW ein gefährlicher Ort mit der hohen Strahlenbelastung“,unterstreicht der ukrainische Präsident Selenskyj.

Bei Tschernobyl handelt es sich zudem um ein gigantisches Atommüll-Zwischenlager. Der letzte der vier Reaktorblöcke ging im Jahr 2000 vom Netz. Ein auf 100 Jahre Laufzeit konzipiertes „Trockenlager“ für abgebrannte Brennelemente aus Block 1-3 wurde im vergangenen Jahr in Betrieb genommen. Mehr als 21.000 Brennelemente sollen aus dem derzeitigen „Nasslager“ in Behälter umgeladen und dann in garagenähnlichen Gebäuden geparkt werden. Innerhalb eines Jahres wurden 1.700 Brennelemente neu verpackt. Eine Konditionierungsanlage für flüssige radioaktive Abfälle verarbeitet Abwasser und stellt daraus 4.000 Atommüll-Gebinde her. 2021 wurde in der Nähe des AKW zudem das zentrale Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente der AKW Riwne, Südukraine und Chmelnyzkyj fertiggestellt.

„If you mean when will Chernobyl be completely safe – the half-life of Plutonium 239 is 24,000 years. Perhaps we should just say, not in our lifetimes.“ (Zitat des sowjetischen Wissenschaftler Waleri Alexejewitsch Legassow in der Miniserie „Chernobyl“)

Tschernobyl brachte den Meinungsumschwung

Als es 1979 im US-AKW Three Mile Island zu einer partiellen Kernschmelze kam, waren neben einigen Protestaktionen hauptsächlich Änderungen der Sicherheitsvorschriften und technische Nachrüstungen für Atomkraftwerke die Folge. Die Katastrophe von Tschernobyl bewirkte aber einen grundsätzlichen Umschwung in der öffentlichen Meinung zur Atomenergie. Die Anti-Atomkraft-Bewegung bekam durch das Unglück enormen Aufwind, große Demonstrationen folgten, die Forderung: der Ausstieg aus der Atomenergie. Denn plötzlich war das Risiko real: Deutschland war vom nuklearen Fallout betroffen. In Regionen vor allem im Süden wurde Gemüse untergepflügt, tierische Produkte wurde vernichtet, Böden abgetragen.

Politisch folgte eine weitgehende Reform der staatlichen Atomaufsicht, des Strahlenschutzes und der Katastrophenvorsorge. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und ein nachgeordnetes Bundesamt für Strahlenschutz wurden gegründet. Bereits einen Monat nach der Reaktorkatastrophe konnte das Bundesumweltministerium seine Arbeit aufnehmen, das sich auch mit den Folgen von Tschernobyl befassen sollte. Die Grünen erhielten Zulauf und unterstrichen eine ihrer wichtigsten Ziele: Atomkraft – nein danke!

Die Tschernobyl-Folgen waren nachhaltig. In einer Studie zur Technikakzeptanz in Deutschland von 1994 heißt es: „Die Einschätzung der Kernenergie hat sich nach dem ‚Tschernobyl‐Schock‘ bis heute nicht erholt und ist durchweg stark negativ geblieben. Je nach Antwortvorgaben votieren zwischen 50 und 70 Prozent der Befragten gegen den Bau von weiteren Kernkraftwerken.“

Doch auch wenn Pannen und Störfälle über Jahrzehnte immer wieder für Debatten um die Gefahren der Atomkraftnutzung sorgten, änderte sich die Atompolitik nach dem Unglück nicht grundlegend. Zwar wurde 2001 von einer rot-grünen Bundesregierung der erste „Atomausstieg“ beschlossen, unmittelbare Folgen für die Anlagen hatte der aber nicht. Erst nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 wurde der endgültige Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 beschlossen.

Doch erst am 15. April 2023 gingen nun die letzten drei großen Meiler in Deutschland für immer vom Netz. Der Ausstieg wurde bis zum letzten Tag (und darüber hinaus) heftig diskutiert. Die Risiken schwerer Unfälle wie Tschernobyl oder Fukushima und die ungeklärte Lagerung des Atommülls wurden dabei bewusst ausgeklammert.

Aktionen zum Tschernobyl-Jahrestag

„Um den Atomausstieg vollständig und unumkehrbar zu machen und diesen auch in anderen Atom-Ländern zu erreichen, ist unsere Präsenz am GKN weiterhin wichtig“, kündigen etwa Aktivist*innen in Neckarwestheim an, die sich am Mittwoch, den 26. April um 20 Uhr vor dem AKW versammeln wollen. Mahnwachen in Gedenken an die Opfer der Tschernobyl-Katastrophe finden außerdem in Gronau, Hameln, Lingen, Nördlingen und Schweinfurt statt.

weiterlesen:

Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986

Atomunfall – sicher ist nur das Risiko
Ob technischer Defekt oder Flugzeugabsturz, Materialermüdung oder Unwetter, Naturkatastrophe oder menschliches Versagen – in jedem Atomkraftwerk kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Ein Super-GAU bedroht Leben und Gesundheit von Millionen.

Quellen u.a.: Roland Czada: Reaktorkatastrophen und Anti‐Atom Bewegung. Die Auswirkungen von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima (2013)

« Zur Blogübersicht
Jan Becker Profil-Bild

Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

blog via e-mail abonnieren
RSS-FEED
Blog als RSS-FEED abonnieren.
abonnieren »