Wasserstoff und der französische Atompoker in der EU

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Während hierzulande endlich die letzten AKW vom Netz gehen, ist Atomenergie auf europäischer Ebene weiter hart umkämpft. Um zu verhindern, dass sie weiter die Energiewende blockiert, muss die Zivilgesellschaft wachsam bleiben – auch in Deutschland.

Im europäischen Wasserstoff-Sektor ist viel Bewegung. Am 10. Februar hat die EU-Kommission in einem delegierten Rechtsakt festgelegt, wie „grüner“ Wasserstoff produziert werden darf. Die Vorschrift kam ein Jahr später als geplant, auch aufgrund intensiver Lobbyarbeit aus Paris und Berlin. Frankreich kann als Erfolg verbuchen, dass es künftig Netzstrom nutzen darf, um Wasserstoff zu produzieren. Grund ist der vergleichsweise niedrige CO2-Fussabdruck seines Strommixes. Wer Wasserstoff herstellen will, muss zwar überall in der EU langfristige Verträge mit Ökostromproduzenten abschließen. Doch Frankreich muss die Anlagen, aus denen der Strom kommt, nicht neu und zusätzlich errichten. Dasselbe gilt für Schweden. Und weht der Wind mal nicht, dürften die Produzenten mit Atomkraft Wasserstoff erzeugen und ihn als „grün“ verkaufen. Das sind klare Wettbewerbsvorteile im zukünftigen Wasserstoffmarkt.

Wasserstoff soll dort verwendet werden, wo Prozesse aktuell noch nicht elektrifiziert werden können, vor allem in der Chemie- und Stahlindustrie. Auch im Verkehr könnte er zum Einsatz kommen. Bei der Reduktion der CO₂-Emissionen der europäischen Wirtschaft soll Wasserstofftechnologie daher eine zentrale Rolle spielen: 10 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff jährlich will die EU bis 2030 selbst erzeugen, weitere 10 Millionen Tonnen importieren. Das wird viel Geld kosten. Um den Hochlauf einer Wasserstoffwirtschaft zu ermöglichen, wird die EU mindestens 100 Milliarden Euro an Fördergeldern bereitstellen. Hinzu kommt Geld aus nationalen Förderprogrammen, zum Beispiel 9 Milliarden Euro in Deutschland und 7,2 Milliarden Euro in Frankreich. Das weckt Begehrlichkeiten, nicht nur in der Erneuerbaren-Energien-Branche, sondern auch seitens Scheinlösungen wie Gas- und Atomindustrie. Ganz vorne dabei ist die französische Regierung, die mit allen Mitteln versucht, Atomkraft als „nachhaltige“ Energiequelle neben Wind, Wasser und Sonne zu etablieren, unter anderem für die Wasserstoffproduktion.

Zugeständnisse an Frankreich

Während Frankreich beim delegierten Rechtsakt deutliche Vorteile für die französische Wasserstoffindustrie durchsetzen konnte, ging die Strategie andernorts nicht auf. So konnte das Land nicht erreichen, dass bei den RED-III-Verhandlungen über die Erneuerbaren-Richtlinie „roter“ Wasserstoff aus Atomkraft dem „grünen“ Wasserstoff aus erneuerbaren Energien gleichgesetzt wurde. Trotzdem gab es Zugeständnisse an Frankreichs Pro-Atom-Kurs: Die Sektorziele für die Industrie sehen vor, dass alle EU-Länder im Jahr 2030 42 Prozent des eingesetzten Wasserstoffs mittels Erneuerbaren herstellen. 2035 sollen es dann 60 Prozent sein. Doch Frankreich kann bis zu 20 Prozentpunkte davon durch Wasserstoff aus Atomkraft erreichen – unter der Voraussetzung, dass es dann 80 Prozent des von der Industrie genutzten Wasserstoffs mit Atomkraft oder Erneuerbaren herstellt. Dieses Ziel gilt als kaum zu erreichen. Doch Frankreich setzt darauf, dass jeder atomfreundliche Kompromiss seine Ausgangsposition bei weiteren Verhandlungen verbessert.*

Auch beim Industrieplan für den Grünen Deal konnte sich Frankreich nicht auf ganzer Linie durchsetzen. Als Antwort der EU auf den „Inflation Reduction Act“ der USA soll er günstige Bedingungen dafür schaffen, dass innerhalb der EU mehr Produktionskapazitäten für CO2-neutrale Technologien und Produkte entstehen – eine dieser Technologien ist die Herstellung von Wasserstoff. Als Teil des Plans stellte die Kommission am 16. März den Net Zero Industry Act vor. Bis zuletzt wurde in den Verhandlungen darum gerungen, ob die Atomenergie einbezogen wird. Das Ergebnis ist ambivalent: Einerseits steht die Atomenergie nicht auf der Liste der „strategischen Netto-Null-Technologien“, die von schnelleren Genehmigungen und einem leichteren Zugang zu Finanzmitteln profitieren sollen. Andererseits beinhaltet die formale Definition der Netto-Null-Technologien „fortgeschrittene Technologien zur Energieerzeugung aus nuklearen Prozessen mit minimalen Abfällen aus dem Brennstoffkreislauf“ und „kleine modulare Reaktoren“.

Im Bereich der anstehenden EU-Strommarktreform will die EU-Kommission Fördermöglichkeiten für Atomkraft mit denen für Erneuerbare gleichsetzen. Einen entsprechenden Vorschlag hat die Kommission am 14. März vorgelegt. Gleichzeitig plant sie, die staatlichen Instrumente für die Förderung erneuerbarer Energien einzuschränken. Noch in diesem Jahr müssen das EU-Parlament und der Europäische Rat entscheiden, ob sie die Reform annehmen und welche Änderungen sie noch einfordern.

Der große Coup gelang Frankreich im letzten Sommer, als es durchsetzen konnte, dass Atomkraft in der EU-Taxonomie zur Bewertung von Geldanlagen als „nachhaltig“ eingestuft wurde. Wie zu erwarten war, hallt diese Entscheidung nun in allen Verhandlungen nach, in denen es darum geht, ob Atomenergie als nachhaltig gelten soll oder nicht. Und um seine Pro-Atom-Agenda innerhalb der EU zu stärken, gründete Paris im Ende Februar eine „Atomallianz“ von elf europäischen Staaten. Außerdem drohte Frankreich, die Wasserstoff-Pipeline H2Med von Spanien über Frankreich nach Deutschland zu blockieren, falls Berlin sich in Weg stellen sollte.

Frankreichs Atomkraft-Kreuzzug

Doch warum versucht Frankreich dermaßen aggressiv, auf europäischer Ebene Vorteile für seine Atomindustrie herauszuschlagen? Die französische Energiepolitik steht an einem Scheideweg. Wie viele andere Länder auch will das Land seine Klimaziele durch die Elektrifizierung verschiedener Sektoren erreichen. Dadurch könnte der Strombedarf bis 2030 von 417 auf 715 Terawattstunden ansteigen. Doch gleichzeitig wird die alternde Atomflotte des Landes, die noch 2021 fast 70 Prozent des Stromverbrauchs deckte, immer unzuverlässiger. Die Hälfte der 56 AKW stand einen großen Teil des letzten Jahres still – wegen Korrosion, Wassermangel und einem Wartungsstau. Noch immer sind 40 Prozent von ihnen außer Betrieb. Geld ist so nicht zu machen: Der inzwischen verstaatliche Betreiber EDF verbuchte 2022 einen Rekordverlust von 17,9 Milliarden Euro. Trotzdem hat sich die französische Politik offenbar entschieden, unbeirrt auf Atomkurs zu bleiben, anstatt das Ruder herumzureißen und massiv in erneuerbare Energien zu investieren. Doch auch die Entscheidung, die maroden AKW zu erneuern und neue zu bauen, wird Frankreich teuer zu stehen kommen. Dabei soll die EU nun Frankreich unter die Arme greifen.

Würde das Land nicht als inzwischen einziges in der EU über nukleare Luft- und Seestreitkräfte verfügen, könnte man sich fragen, warum Frankreich trotz massiver technischer und finanzieller Probleme überhaupt weiter auf Atomenergie setzt. Doch ein Ende der Stromerzeugung mit AKW würde zugleich den Fortbestand der militärischen Atomindustrie infrage stellen – undenkbar für Frankreich, das die „force de frappe“ als Teil seiner nationalen Identität betrachtet. Dabei lässt sich in Frankreich hervorragend beobachten, dass Atomkraft ein Bremsklotz für den Ausbau der Erneuerbaren ist. Obwohl das Land beste Voraussetzungen für Erneuerbare hat, lag der Anteil 2020 bei nur 19,3 Prozent des Energieverbrauchs und damit deutlich unter der Zielmarke von 23,7 Prozent. Doch anstatt seinen zivil-militärischen Nuklearkomplex zu gefährden, riskiert Frankreich lieber, europaweit die Energiewende auszubremsen.

„Roter“ Wasserstoff in Deutschland?

Bei der Standortpolitik für die deutsche Stahl-, Chemie- und Autoindustrie ist die aktuelle Bundesregierung nicht wählerisch. Sie betont zwar, dass sie nur „grünen“ Wasserstoff für nachhaltig hält, lässt aber in der Nationalen Wasserstoffstrategie Schlupflöcher, indem sie „kohlenstoffarmen“ Wasserstoff akzeptiert. Dahinter verbirgt sich unter anderem „roter“ Wasserstoff. Es gibt Anzeichen, dass die Wasserstoffstrategie, die aktuell überarbeitet  wird, diesen auch in Zukunft nicht ausschließen wird. Unmissverständlich sagte es Jörg Kukies, Staatssekretär im Kanzleramt, auf einer Podiumsdiskussion im März in Paris: „Wir werden keine Barrieren errichten oder Regeln schaffen, die Wasserstoff aus Kernenergie verbieten oder diskriminieren“.

Zu erwarten ist, dass Deutschland zunächst nuklearen Wasserstoff aus Frankreich importieren wird. Neben der räumlichen Nähe spielt dabei auch eine Rolle, dass die französische Wasserstoffindustrie weit entwickelt ist und bereits gemeinsame Projekte laufen. Dazu gehören die deutsch-französische Wasserstoffallianz und „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI). Ein strategisch wichtiges IPCEI-Projekt ist mosaHYc, ein geplantes Wasserstoffnetz in der Drei-Länder-Region Saarland, Grand Est und Luxemburg. Es könnte französischen Wasserstoff z. B. zu den großen Stahlwerken im Saarland transportieren. Auch über zwei weitere Stellen des geplanten European Hydrogen Backbone in der Nähe von Saarbrücken und Freiburg könnte „roter“ Wasserstoff von Frankreich nach Deutschland fließen.

Warum konnte Frankreich sich nicht komplett durchsetzen?

Dass Frankreich sich mit seiner Pro-Atom-Position bisher nicht vollständig durchsetzen konnte, hat vielfältige Gründe:

  • Zum einen dürfte sich herumgesprochen haben, dass Atomkraft zu langsam, zu gefährlich und zu teuer ist, um in der Klimakrise eine bedeutende Rolle zu spielen. Den EU-Politikern dürfte, auch dank einer wachen Zivilgesellschaft, der desolate Zustand des französischen Kraftwerksparks und das Neubaufiasko der EPR-Reaktoren, z. B. in Flamanville, nicht entgangen sein. Ein schneller, sicherer und kostengünstiger Ausbau der Stromproduktion, die das Klima nicht belastet, ist mit Atomkraft nicht zu machen. Die auf Grundlage dieser Erkenntnisse geleistete europäische Anti-Atom-Politik von Ländern wie Österreich, Deutschland, Luxemburg und Spanien hat verhindert, dass Atomkraft und „roter“ Wasserstoff von der EU noch mehr gefördert wird.
  • Außerdem strebt die EU an, ihre Stromversorgung unabhängiger zu machen von russischen Energielieferungen. Aktuell ist der russische Atomsektor von EU-Sanktionen ausgenommen, denn die Stromversorgung Frankreichs und mehrerer osteuropäischer Ländern wie Ungarn ist von russischen Uranlieferungen und anderen Atomdienstleistungen abhängig. Trotzdem scheint in die europäische Politik durchgedrungen zu sein, dass eine Förderung der Atomenergie die Abhängigkeit des europäischen Energiesektors von Russland erhöhen und nicht vermindern würde.
  • Die Gefahren der Atomkraft sind in Deutschland tief im öffentlichen Bewusstsein verankert. Das ist ein Verdienst der Anti-AKW-Bewegung. Der laute Protest gegen die Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomie hat auf EU-Ebene für das Thema Atomkraft sensibilisiert und verhindert, dass die Interessen der Atomindustrie in Brüssel klammheimlich umgesetzt wurden.

Wichtig wird für die sozialen Bewegungen sein, auch nach dem Abschalten der deutschen AKW weiter am Ball zu bleiben. Denn für die Pro-Atom-Lobby bleiben noch viele Gelegenheiten, weitere Vorteile für die Atomkraft zu verhandeln und damit die europäische Energiewende zu blockieren. Besonders die europäische Strommarktreform, zukünftige Flugkraftstoffe („RefuelEU“) und Sanktionen für Rosatom werden Themen mit weitreichenden Konsequenzen sein. Auch .ausgestrahlt wird dieses Thema weiter verfolgen und sich gemeinsam mit Bündnispartnern in Deutschland und Europa für ein (klima)gerechteres Energiesystem ohne Atomgefahren einsetzen.

* Aktualisierung vom 3. Juni 2023:

Bei der EU-Erneuerbaren-Richtlinie RED III verhinderte Frankreich im Mai die als sicher geltende Zustimmung und verlangte eine größere Anerkennung für Atomstrom. Dabei gab es bereits Zugeständnisse in dieser Frage: Für Länder mit hohem Atomstromanteil an der Wasserstoffproduktion sollte es einen Abschlag von 20 Prozentpunkten auf die Wasserstoff-Ziele für die Industrie geben. Sie hätten dann weniger Wasserstoff aus erneuerbaren Energien produzieren müssen als andere Mitgliedsstaaten. Allerdings wären die Hürden – eine weitgehend dekarbonisierte Industrie und die Erreichung des RED-Gesamtziels – kaum zu nehmen gewesen. Dennoch wurde angenommen, Frankreich werde den Kompromiss als Erfolg verbuchen, weil erstmals erneuerbare Energien und Atomkraft miteinander verrechnet werden sollten.

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  • Themenseite: Wasserstoff aus Atomstrom
     
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