Gefühl statt Nachweis

29.12.2022 | Armin Simon
Anti-Atom-Protest vor dem VGH Mannheim am Tag der Klage gegen das AKW Neckarwestheim
Anti-Atom-Protest vor dem VGH Mannheim am Tag der Klage gegen das AKW Neckarwestheim
Foto: Daniel Knoll

Der Prozess vor dem baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof um die Betriebsgenehmigung des Riss-Reaktors Neckarwestheim‑2 bestätigt zentrale Vorwürfe von .ausgestrahlt. Umweltministerium, Betreiber und von ihnen beauftragte Gutachter orakeln zu künftigen Rissen, Sicherheitsnachweise legen sie keine vor. Dafür tun sie kund, die Vorschriften des kerntechnischen Regelwerks seien „nicht wörtlich“ zu nehmen

Immer diese Atomkraftgegner*innen, die auf Vorschriften pochen, Sicherheitsanforderungen zitieren, Regelverstöße ankreiden! Der Gutachter ist sichtlich genervt. Im Auftrag des Umweltministeriums hat er mehrfach den Weiterbetreib des Riss-Reaktors Neckarwestheim‑2 gerechtfertigt, trotz weiter aktivem Schädigungsmechanismus, trotz immer neuen Rissen, systematischen Fehlern also, deren Ursache nie behoben wurde. Und immer noch gibt es Kritik! Das kerntechnische Regelwerk, blafft er die Kläger an, sei „nicht wörtlich“ zu nehmen. Der Leiter der Atomaufsicht in Baden-Württemberg, vorne am Beklagten-Tisch, widerspricht nicht.

Es ist Mittwochvormittag Mitte Dezember. Im prall gefüllten Saal III im Untergeschoss des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim hat .ausgestrahlt gerade die „Sicherheitsanforderungen an Kernkraftwerke“ zitiert, welche die Umweltministerien von Bund und Ländern 2015 veröffentlicht haben. Demnach darf am Reaktorkreislauf eines AKW das Auftreten von „rasch fortschreitenden Rissen (…) nicht zu unterstellen“ sein.

In Neckarwestheim‑2 aber bilden sich, sogar an der neuralgischsten Stelle des Reaktorkreislaufs, den dünnwandigen Dampferzeuger-Heizrohren, seit Jahren immer neue Risse. Die Spannungsrisskorrosion, um die es hier geht, ist die Folge eines korrosiven Milieus, das sich in den Dampferzeugern um die darin verbauten Rohre herum gebildet hat, sich unter anderem in schmalen Spalten festgesetzt hat und bis heute fortbesteht. Der Schädigungsmechanismus, der zu den Rissen führt, ist trotz inzwischen fünf Jahre andauernder Gegenmaßnahmen weiter aktiv. Das hat der TÜV zuletzt im Juni schriftlich bestätigt. Weitere Risse sind also fraglos „zu unterstellen“.
 
Die Reaktorsicherheitskommission zählt schon Spannungskorrosionsrisse, die im Laufe eines Jahres nur 40% der Wanddicke eines Dampferzeuger-Heizrohres durchdringen, als „Schnellläufer“. In Neckarwestheim sind mehrfach Risse nachgewiesen worden, die sich beinahe doppelt so schnell durch die Wand gefressen haben. Und ein TÜV-Mitarbeiter wird später auf Nachfrage des Gerichts einräumen, dass bei Spannungsrisskorrosion keine „Obergrenze“ beim Risstempo existiert.
 
Der Verstoß gegen die Sicherheitsanforderungen ist offensichtlich. Nur nicht für das grün geführte Stuttgarter Umweltministerium. Das wartet mit einer ganz eigenen Definition der Sicherheitsanforderungen auf: „Rasch fortschreitend“, behauptet es, beziehe sich gar nicht auf die Wachstumsgeschwindigkeit der Risse …

Die Mär vom Leck-vor-Bruch-Nachweis

Im Kern geht es beim Streit um die Rissgefahr in Neckarwestheim um zwei Fragen: Ist es zulässig, ein AKW über Jahre hinweg, gleichsam „an der Gefahrengrenze“, mit einem nicht behobenen systematischen Fehler zu betreiben, der zu immer neuen Rissen an wichtigen Rohren führt? Und welche Nachweise liegen vor, dass diese Risse nicht auch gefährlich groß werden können – so groß, dass Rohre brechen und abreißen könnten, was einen schweren, unter Umständen nicht mehr beherrschbaren Störfall verursachen würde.

Im Sommer 2020 hatte .ausgestrahlt zusammen mit Anwohner*innen unter Verweis auf die immer neuen Risse beim Umweltministerium den vorläufigen Widerruf der Betriebsgenehmigung des Reaktors beantragt. In seinem Ablehnungsbescheid, gegen den sich die nun verhandelte Klage formal richtet, beruft sich das Ministerium explizit auf einen für die Rissrohre in Neckarwestheim angeblich geführten „Leck-vor-Bruch-Nachweis“. Ein Jahr später bekräftigt es in einem Schriftsatz ans Gericht, es sei „der erklärte Zweck“ dieses Nachweises, „sicherzustellen, dass auftretende Leckagen sicher vor dem Erreichen einer kritischen Rissgröße erkannt werden.“
 
Unterstellt, es gäbe einen solchen Nachweis, würden sich alle Risse zuerst über ein detektierbares Leck bemerkbar machen, bevor sie eine gefährliche Größe erreichen, die zum Bruch von Rohren führen könnte. .ausgestrahlt hat von Anfang an bestritten, dass ein solcher Nachweis für Neckarwestheim‑2 vorliegt und dass er überhaupt geführt werden kann. Dazu nämlich wären Annahmen über das Risswachstum erforderlich – das bei Spannungsrisskorrosion eben nicht prognostizierbar ist. Zwei Jahre, mehrere Gegengutachten und unzählige Schriftsätze später gibt die Behörde vor dem VGH Mannheim schlussendlich klein bei. Dem Vortrag von .ausgestrahlt, dass die vorliegenden Unterlagen und Berechnungen eben keinen validen Leck-vor-Bruch-Nachweis darstellen – sondern nur den eingeschränkten Nachweis, dass manche, sich an bestimmte Vorgaben haltende Rissformen rechtzeitig entdeckt werden können –, können weder die Behörde, noch EnBW, noch die zahlreichen von diesen beauftragten Sachverständigen entkräften. Der zentrale Pfeiler, auf den die baden-württembergische Atomaufsicht ihre Sicherheitsbewertung der Risse in Neckarwestheim‑2 seit Jahren stützt, hat sich urplötzlich in Luft aufgelöst. Damit ist auch die kerntechnische Regel KTA 1403 nicht mehr eingehalten, welche fordert, den Ausfall von Dampferzeugerheizrohren infolge systematischer Fehler zu „verhindern“.

Rissorakel statt Sicherheitsnachweise

Stattdessen behaupten Behörde, EnBW und ihre Gutachter nun, verlässliche Vorhersagen über die in Neckarwestheim möglichen Rissformen und ‑größen machen zu können. Zwar räumt ein Vertreter des TÜV Nord wie oben erwähnt gleich mehrfach ein, dass man bei Spannungsrisskorrosion „keine Obergrenze“ der Risswachstumsgeschwindigkeit benennen könne. „Die Erfahrung“, fügt er dann hinzu, lasse aber den Schluss zu, dass es in Neckarwestheim nicht zu gefährlich großen Rissen kommen werde – jedenfalls nicht im Zeitraum bis zur jeweils nächsten Rissprüfung. Eine „Prognose“ nennt der Leiter der Atomaufsicht im Umweltministerium das, was er und seine Gutachter vor Gericht präsentieren. Beweise und Sicherheitsnachweise sehen anders aus.
 
Ein vom Ministerium beauftragter Sachverständiger versteigt sich gar zur Behauptung, die Zahl der jährlich neu entstehenden Risse und deren Tiefe habe „abgenommen“, zudem habe man mit „Spülungen“ die korrosiven Bedingungen zumindest abgemildert. Richtig ist, dass sich die Anzahl der jeweils neu entstandenen Risse seit 2020 jedes Jahr mehr als verdoppelt hat und also exponentiell steigt und dass auch die Größe der Risse in den letzten Jahren wieder deutlich zugenommen hat. Fakt ist auch, dass Framatome, der Hersteller der Dampferzeuger, in für die Risse besonders sensiblen Bereichen gar eine Verschlechterung der korrosiven Bedingungen konstatiert.

Davon abgesehen ist jegliche „Trendaussage“ auf Basis der bisher in Neckarwestheim detektierten rund 350 Risse per se hochgradig unseriös. Wer würde schließlich nach einem „Trend“ von 350 Nicht- oder Kleingewinnen beim Lotto ernsthaft in Frage stellen, dass man den Jackpot trotzdem knacken kann?

Nicht behobener systematischer Fehler

Das Rissorakel, das Behörde, Betreiber und Gutachter im Fall von Neckarwestheim‑2 aufführen, lenkt nur vom eigentlichen Versäumnis ab: Dass die Ursache der Risse bis heute nicht behoben und der Schädigungsmechanismus bis heute nicht beseitigt ist. Genau das aber verlangen sowohl das kerntechnische Regelwerk als auch die Reaktorsicherheitskommission. Letztere etwa hielt schon 2019 mit Blick auf die Risse in Neckarwestheim fest: „9 g) Geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der korrosiven Bedingungen zu sind ergreifen.“

Dies ist in Neckarwestheim bis heute ganz offenkundig nicht gelungen, wie schon die immer neuen Risse im fünften Jahr in Folge zeigen. EnBW selbst hat ganz aktuell in einem Arbeitsbericht noch einmal dargelegt, „dass es kein Reinigungsverfahren gibt“, das die korrosiven Bedingungen so eliminieren könne, dass „eine Neuentstehung von Spannungsrisskorrosion nicht mehr zu unterstellen ist“. Framatome hält fest, dass sich „das Potenzial für Spannungsrisskorrosion“ in Neckarwestheim sogar „erhöht“ habe.

Der TÜV Nord löst das Dilemma auf seine Weise: Einerseits bestätigt er gegenüber dem Ministerium die „(periodische) Beseitigung der korrosiven Bedingungen im Sinne der RSK-Empfehlung 9 g)“. Andererseits stellt er gleich im Satz darauf klar: Das Maßnahmenbündel „erweist sich (…) nicht als geeignet, vorhandene Sulfat-Depots (u.a. die Sulfatablagerungen verursachen die korrosiven Bedingungen, Anm. d. Red.) kurzfristig und vollständig zu beseitigen“.
 
Auch die kerntechnische Regel KTA 3204.1 für wiederkehrende Prüfungen etwa an Dampferzeugerheizrohren schreibt im „Entscheidungsplan für die Bewertung der Ergebnisse der zerstörungsfreien Prüfungen“ vor, bei systematischen Rissfunden die Ursache der Schädigungen zu beheben und den Erfolg der Gegenmaßnahmen zu kontrollieren. Erweisen sich diese als nicht wirkungsvoll, müssen sie korrigiert werden. Nichts davon ist in Neckarwestheim der Fall – obwohl auch die Reaktorsicherheitskommission in ihrer Empfehlung 9 i) von 2019 für den Fall weiterer Rissbefunde explizit eine neue „Bewertung“ fordert.

Gewaltenteilung außer Kraft

Das Gericht teilte am Tag nach der Verhandlung mit, die Klage abzuweisen. Die Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Nach dem Verlauf der Verhandlung ist aber davon auszugehen, dass die Richter wie schon im Eilverfahren auf die sogenannte Einschätzungsprärogative der Behörde verweisen werden. Demnach darf die Behörde in weitem Rahmen selbst entscheiden, ob sie den Weiterbetrieb des Reaktors für zulässig hält oder nicht. Ob Sicherheitsregeln und ‑anforderungen dann wörtlich, nach eigener Interpretation oder gar nicht einzuhalten sind, läge demnach im Ermessen der Atomaufsicht. Über die Frage, ob in Neckarwestheim gefährlich große Risse entstehen können, sagt das allerdings nichts: Juristische Winkelzüge hebeln die Physik nicht aus.

weiterlesen:

  • Mehr zum Riss-Reaktor Neckarwestheim
  • AKW Neckarwestheim‑2: Der unerkannte Störfall
    7.5.2021: Der ehemalige Chef-Atomaufseher im Bundesumweltministerium Dieter Majer fordert, das AKW Neckarwestheim‑2 sofort vom Netz zu nehmen: Nach allen vorliegenden Unterlagen bestehe die akute Gefahr eines schweren Atomunfalls. Die 2018 erstmals entdeckten Risse seien aufgrund der besonderen sicherheitstechnischen Bedeutung sogar als INES-2-Ereignis einzustufen, offiziell: „Störfall“.
  • Im roten Bereich
    5.2.2021: Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt.
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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