Offener Brief von Mediator:innen zur Entscheidung zum Streckbetrieb der Atomkraftwerke Neckarwestheim, Isar und Emsland

05.12.2022 | Silke Freitag
AKW Emsland
AKW Emsland
Foto: RWE

An alle Verantwortlichen in der Politik,

als Konfliktexpert:innen möchten wir auf eine grundlegende Gefahr bei einer Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke hinweisen. Dabei ist unerheblich, ob es sich „nur“ um einen kurzen Streckbetrieb von drei Reaktoren oder eine darüber hinausgehende Laufzeitverlängerung handelt. Dieser für uns wesentliche Aspekt wurde in der Debatte bislang unzureichend beachtet.

Zu uns: Wir sind Konfliktexpert:innen aus unterschiedlichen bundesweiten Mediationsverbänden und haben uns 2014 zusammengeschlossen, um den Atomausstieg konstruktiv zu begleiten.

Zwei entscheidende Punkte haben dazu geführt, dass der Standortsuchprozess überhaupt beginnen konnte:

  • Das Ausstiegsgesetz mit festgelegten Laufzeiten der Atomkraftwerke und damit der vermeintlich endgültige Ausstieg aus der Atomkraft am 31.12.2022.
  • Die Übernahme von Verantwortung für den Atommüll, den die Umweltverbände und atomkritischen Initiativen nie wollten. Dieser Müll soll an einem möglichst sicheren und geeigneten Standort eine nachhaltige Endlagerung erhalten.

Den weiteren Verlauf haben wir kritisch mit Stellungnahmen begleitet (siehe unsere Dokumente auf umweltmediation.info)

Vom Deutschen Bundestag war im Gesetz zur Standortsuche ausdrücklich die Mitwirkung und Beteiligung der Umweltverbände und Anti-Atomkraft-Initiativen gewünscht und gewollt.

Von Anfang an gab es jedoch großes Misstrauen der Verbände und Initiativen in die politische Entscheidung. Basierend auf 50 Jahren wiederholter Desinformation, falschen und nicht eingehaltenen Versprechungen in der Auseinandersetzung um die Nutzung der Atomkraft.

Es gab eine Grundsatzentscheidung des Ausstieges, die später wieder aufgehoben wurde. Nach Fukushima gab es 2011 den großen politisch gewollten Ausstieg aus der Atomkraft mit im Gesetz festgelegten Abschaltdaten. Dieser parteiübergreifende parlamentarische Konsens wird nun wieder aufgekündigt. Dies zeigt eine mangelnde Verlässlichkeit politischer Entscheidungen, selbst wenn sie Gesetzeskraft haben.

Eine Folge davon ist, dass interessierte, engagierte und wesentliche Gruppen, Personen und Initiativen sich nicht mehr beteiligen. Aktuell hat die BI Lüchow-Dannenberg ihre Mitarbeit im Rahmen der Standortsuche aufgrund des beschlossenen Streckbetriebs auf Eis gelegt.

Dies ist ein weiteres Beispiel in einer längeren Reihe von Beteiligungsausstiegen. Wie soll so ein gesellschaftlicher Konsens für ein Atommüll-Endlager hergestellt werden?

Aus unserer Erfahrung mit Konfliktbearbeitung und Beteiligungsverfahren wissen wir: Gelungene Beteiligungsverfahren mit gehaltenen Versprechen und verlässlichen Ergebnissen fördern Vertrauen in die handelnden Akteure und somit in die Demokratie als solche. Gebrochene Zusagen und ein Hin und Her des Staates wie aktuell bei der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zerstören dagegen dieses Vertrauen in die Demokratie grundlegend. Dies führt unter anderem zu einem fatalen Anstieg der Zustimmung für populistische Positionen von rechts. Wir sind hochgradig besorgt, dass durch eine Laufzeitverlängerung – und sei es nur um wenige Monate – das Vertrauen in demokratische Aussagen durch Bundestag und Bundesrat noch weiter verloren geht.

Wie können in der Zukunft die Beteiligung und Mitwirkung von zivilgesellschaftlichen Organisationen mit ihrer Expertise bei den Herausforderungen (Klima, Energie, Umwelt, Müll usw.) erreicht werden, wenn am Ende die Parteien und Fraktionen die erreichten Übereinkünfte einfach aufkündigen und Gesetze nach Bedarf hin- und her ändern, ohne mit denjenigen, mit denen die Übereinkünfte erzielt wurden, einen neuen Konsens zu suchen?

Wer gibt eine Sicherheit für die Verlässlichkeit von Aussagen und Festlegungen des Staates und dessen Organen?

Politiker:innen können das Ausstiegsgesetz ändern. Doch können sie dieses zerstörte Vertrauen wieder aufbauen?

Wir befürchten nein. Wir sehen, dass dieser wesentliche Aspekt in der aktuellen Diskussion kaum berücksichtigt wird. Vertrauen ist wesentlich für das Funktionieren des Gemeinwesens und des Staates.

Darüber hinaus befinden wir uns in Europa aktuell in einer neuen Konfliktsituation, in der AKW sogar als Drohkulisse in Kriegshandlungen einbezogen werden. Die bedrohliche Lage in Saporischschja zeigt deutlich die bisher wenig beachteten Risiken der Angreifbarkeit von Infrastrukturanlagen wie AKW – auch in Deutschland.

Aus diesem Grund melden wir uns als Konfliktexpert:innen noch einmal zu Wort und fordern in diesen herausfordernden Zeiten von allen politisch Verantwortlichen die Verlässlichkeit der getroffenen und gesetzlich verankerten Entscheidung des Abschaltens der AKW zum 31.12.2022 ohne Wenn und Aber ein.

Mit freundlichen Grüßen

Christoph Besemer, Sascha Boettcher, Silke Freitag, Dieter Kostka, Roland Schüler

Kontakt:

Roland Schüler
c/o Friedensbildungswerk Köln
Tel 0221 952 1945

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Silke Freitag

Silke Freitag ist Psychologin und Mediatorin. Ihr Schwerpunkt sind identitätsbasierte Konflikte in und zwischen Organisationen sowie im öffentlichen Bereich, u.a. als Moderatorin der Rückbaudialoge der Forschungsreaktoren in Geesthacht (seit 2012) und Berlin (seit 2017). Sie lehrt Mediation u.a. an der Universität Hamburg und ist Autorin diverser Fachbücher und Artikel zu Mediation und Bürger*innen-Beteiligung.

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