Die Entscheidung, die drei letzten deutschen AKW noch einige Monate weiterlaufen zu lassen, ist der traurige Höhepunkt einer absurden Debatte. Sie zeigt: Die Anti-Atom-Bewegung muss den Druck aufrechterhalten, bis alle Atomanlagen endgültig abgeschaltet sind.
Am 11. November, pünktlich zum Karnevalsbeginn, stimmt der Bundestag für einen Weiterbetrieb der AKW Emsland, Isar-2 und Neckarwestheim-2 bis zum 15. April 2022. Grüne, SPD und FDP ändern das Atomgesetz, streichen den lange feststehenden und im ganz großen Parteienkonsens getroffenen Abschalttermin zum Jahresende und öffnen damit die Tür für weitere Laufzeitverlängerungsdebatten.
Für die Energieversorgung notwendig ist der Weiterbetrieb nicht – auch nicht in diesem Winter. Es gibt auch ohne Atomkraftwerke genügend Strom für den deutschen Energiebedarf. Dies gilt auch dann, wenn man extreme Annahmen zu Grunde legt und beispielsweise annimmt, dass ungeachtet der immensen Betriebskosten eine Million elektrische Heizlüfter monatelang nonstop laufen würden. Das zuletzt einzig verbleibende Argument angeblich drohender Netzinstabilitäten löst sich bei genauerem Hinsehen in Luft auf: Die kritischen Situationen für das Stromnetz, vor denen die Netzbetreiber im Stresstest warnen, sind solche, in denen besonders viel (!) Strom im Angebot ist, vor allem weil in Norddeutschland viel Wind weht. Am Markt wird dann mehr Strom ins Ausland verkauft, als Leitungen vorhanden sind. Dies ließe sich leicht beheben, indem die Regeln für den Stromexport angepasst werden. Wenn an der Börse nur so viel Strom ins Ausland verkauft werden darf, wie auch tatsächlich physikalisch transportiert werden kann, gibt es auch keine Netzinstabilitäten.
Auf die verbrauchte Gasmenge und die Strompreise haben die AKW ohnehin keinen relevanten Einfluss – laut „Stresstest“ der Übertragungsnetzbetreiber reduziert der Weiterbetrieb bis April den deutschen Gasverbrauch um weniger als 0,2%. Die Strompreise werden auch mit laufenden AKW weiterhin von den teuren Gaskraftwerken bestimmt, der Weiterbetrieb hat hier keine spürbaren Auswirkungen. Auch angesichts der europäischen Situation – z.B. der massiven AKW-Ausfälle in Frankreich – und der Forderung nach europäischer Solidarität gilt: Für mehr Stromexport braucht es mehr Leitungen, nicht mehr Kraftwerke.
Real ist dagegen das Risiko: Die deutschen AKW sind nicht sicher. Zu den grundsätzlichen Gefahren der Atomkraft kommen ganz konkrete und bereits bekannte Sicherheitsprobleme. Im AKW Neckarwestheim-2 wurden in den letzten Jahren mehr als 350 Risse an Rohren des Primärkreislaufs entdeckt, zuletzt mit steigender Tendenz. Aufgrund schlampiger Kontrollen ging der Reaktor im Juni sogar mit einer unbekannten Anzahl unerkannter Risse wieder ans Netz. Die Risse sind vom selben Typ wie die, aufgrund der in Frankreich die AKW vom Netz genommen werden. Das Risswachstum ist nicht vorhersehbar. Risse der gleichen Art wurden auch im AKW Emsland gefunden – und auch hier in den letzten Jahren nicht umfassend kontrolliert. Obwohl baugleich mit Neckarwestheim 2 und Emsland, verweigern die Betreiber des AKW Isar-2 bislang Risskontrollen – die bayerische Atomaufsicht lässt es zu. Den „Stand von Wissenschaft und Technik“, der auch nach Forderung des Bundesverfassungsgerichts Maßstab für die Sicherheitsbewertung sein muss, erfüllen die deutschen AKW in keiner Weise.
Rein politische Entscheidung
Der Weiterbetrieb der AKW ist eine rein politische Entscheidung – mit Fakten hat dies reichlich wenig zu tun. SPD und Grüne lassen sich von den Angst-Kampagnen von FPD, CDU und CSU und AfD treiben. Diese versuchen seit Beginn des Ukraine-Krieges und in Abwesenheit eigener politischer Ideen, mit der Forderung nach jahrelangen Laufzeitverlängerungen politisch zu punkten. Im niedersächsischen FDP-Landtagswahlkampf war der Weiterbetrieb der AKW das zentrale Thema. CDU-Vorsitzender Friedrich Merz erklärte die Wahl in Niedersachsen gar zur „Volksabstimmung“ über den Weiterbetrieb des AKW Emsland. Beide Parteien verloren bei der Landtagswahl, machen aber ungerührt weiter Stimmung gegen den Atomausstieg. Dabei setzen sie neben dem Märchen von der angeblich gefährdeten Versorgungssicherheit mehr und mehr auf das längst widerlegte Argument, dass Atomkraft für den Klimaschutz nötig sei – obwohl sie selbst die Energiewende und damit wirksamen Klimaschutz seit langem sabotieren.
Die SPD schaut der Kampagne der FDP lange Zeit nur zu und schweigt. Am Ende sieht Kanzler Scholz in einem Machtwort eine Möglichkeit, den Koalitionsfrieden wiederherzustellen und sich als „Macher“ zu präsentieren. Auch wenn es scheinbar nur um einige Monate längere Laufzeiten geht, jubelt die FDP. Die Grünen haben ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Während die FDP auch die sinnvollsten Forderungen (Tempolimit) mit Verweis auf den Koalitionsvertrag abbügelt, geben die Grünen sich pragmatisch und bieten den Pro-Atom-Kampagnen immer weitere Ansatzpunkte, anstatt ihrerseits ein klares Veto zu spielen. Habeck hat mit dem Plan der „Notreserve“ im September die Tür für diese Kampagnen weit aufgemacht. Auf dem Grünen-Parteitag Anfang Oktober hat die Grünen-Spitze dann mit der gesamten Parteiprominenz für den Weiterbetrieb von Isar-2 und Neckarwestheim-2 geworben, anstatt den Forderungen nach Laufzeitverlängerungen mit einem klaren Nein den Riegel vorzuschieben.
Wie Weiter?
Jetzt nach der Weiterbetriebsentscheidung kommt es drauf an, wie sich die weitere Debatte entwickelt. SPD und Grüne betonen, dass der Bundestag trotz Änderung des Atomgesetzes den Atomausstieg festgeschrieben hat. Sie glauben, dass die Debatte um die Atomkraft damit vorbei ist. So sehr dies auch zu hoffen ist: Wahrscheinlicher ist, dass nicht nur CDU und CSU, sondern auch die FDP im Frühjahr die Forderungen nach längeren Laufzeiten und neuen Brennelementen wieder hervorholen wird. Solange die AKW nicht endgültig abgeschaltet sind, werden CDU/CSU und FDP weiter versuchen, den Atomausstieg auch grundsätzlich in Frage zu stellen – und sei es nur, um sich parteipolitisch zu profilieren.
Um den drohenden weiteren Atom-Kampagnen ein Ende zu machen und endlich für eine wirksame Energiewende zu sorgen, muss die Anti-Atom- und Klimabewegung jetzt aktiv werden: Die, die seit Jahrzehnten für den Ausstieg und für Erneuerbare Energien auf die Straße gehen, genauso wie diejenigen, die aktuell für Klimaschutz und die Energiewende kämpfen. Die Kampagne „Runterfahren“ hat neben der Auftaktblockade von Neckarwestheim Ende November bereits weitere Blockaden angekündigt. Weitere Gelegenheiten für öffentlichen Protest bietet beispielsweise der Fukushima-Jahrestag am 11. März. Aber auch darüber hinaus braucht es jetzt viele Anti-Atom-Aktive im ganzen Land. Es bleibt dabei: Atomausstieg bleibt Handarbeit.
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