Femke Goedeker, 30, beruflich in der Windkraft-Branche tätig, Gründungsmitglied im Bündnis Atomkraftgegner*innen im Emsland (AgiEL), engagiert sich auch beim Elternverein Restrisiko Emsland und beim BUND. Ein Porträt
Als am Abend des Nikolaustags 2018 bei Advanced Nuclear Fuels (ANF) das Feuer ausbricht, sitze ich an meinem Schreibtisch in Lingen. Das Krankenhaus, das Stadtzentrum, mein Schreibtisch – eigentlich alles hier liegt nicht weiter als fünf Kilometer von der Brennelementefabrik entfernt. Das geht mir auch in diesem Moment durch den Sinn: Es ist so nah. Ich bin betroffen, habe so viele Fragen und die ersten Meldungen nach dem Vorfall rufen Skepsis in mir hervor. „Keine Gefahr!“, „Brand im nicht-nuklearen Bereich“, höre ich. Doch anstatt mir die Angst zu nehmen, macht mich diese Berichterstattung wütend. Wenn in einem Labor in der Fertigung von Brennelementen für Atomkraftwerke Flammen wüten, dann ist das wohl alles andere als im „nicht-nuklearen Bereich“!
„Ich möchte, dass die Menschen in Lingen alles erfahren und – spätestens dann – das Schweigen brechen!“
Und auch nach der weiteren Aufklärung des Falls – zu unser aller Glück haben sich wohl tatsächlich keine nachweisbaren Mengen radio-aktiven Materials aus dem Labor verflüchtigt – ist mein Gemüt nicht beruhigter, sondern meine Fragen häufen sich: Wieso verharmlost man so etwas? Wie soll man da vertrauen, dass man wahrheitsgemäß informiert und aufgeklärt wird, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert? Was ist nach dem Abschalten der Atommeiler mit ANF in Lingen, was ist mit der Urananreicherungs-anlage in Gronau, was mit dem ganzen radioaktiven Müll …? Wird der Bevölkerung etwas vorenthalten? Ist sich die Bevölkerung der kontinuierlich bestehenden Gefahren der Atomkraft in ihren vielfältigen Formen auch nach Abschalten der Meiler bewusst?
Auf der Straße
Der Aufruf zur Demo ein paar Tage drauf zieht mich sehr an. Meine erste Anti-Atom-Demo. Aber auch da wieder: Fragen! Man kennt sich ja hier in Lingen – wer geht da wohl hin? Was erwartet mich? Werden sich Leute anketten? Werde ich als Demonstrantin gleich als kriminell eingestuft?
Und dann war es so ein schönes Erlebnis, mit vielen netten engagierten Menschen zusammen zu stehen und zu gehen! Es wurden Zettel herumgereicht mit einer Einladung zu einem Treffen einer Anti-Atom-Gruppe in Lingen. Da bin ich dann hin, und das war die Gründungsveranstaltung des Bündnisses AgiEL. Seitdem gibt es uns.
In den fast vier Jahren, die unsere Initiative nun besteht, habe ich so viel gelernt. Nie hätte ich gedacht, dass ich mal eine Rede auf einer Demo halte oder an Pressemitteilungen mitarbeite.
Jetzt finde ich mich dabei wieder, an einer Webseite zu bauen und anderweitig im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit mitzuwirken. Mein technisches Verständnis ist gewachsen, und ich kann die Mythen von Politik und Atom-Lobby, auf die ich selbst noch vor einer Weile reingefallen bin, besser entlarven. Das gibt mir – nicht nur für die Anti-Atom-Arbeit – einen sehr viel kritischeren Blick auf die Dinge.
Es gibt so viele Sachen, die in der Bevölkerung als Wissen „gefühlt“ werden, die einfach nicht stimmen. Auch dass der „Atomausstieg“ eben gar keinen vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie bedeutet, weil die Uranfabriken hier weiter laufen, ist vielen ja gar nicht bekannt.
Das Schweigen brechen
Selbst in meinem Beruf merke ich das. Ich habe viel mit Ingenieur*innen zu tun, und manchmal bin ich doch überrascht, dass auch manche technisch versierten Menschen die Dinge nicht so sehen, wie sie sind. Ich verstehe es, weil ich ja auch selbst in anderen Bahnen gedacht habe, aber mittlerweile ärgert es mich, dass Fehlinformationen so viel Macht haben. Ich möchte, dass die Menschen in Lingen alles erfahren und spätestens dann das Schweigen brechen! Das motiviert mich. Und die Arbeit mit Menschen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Kontexten ist so bereichernd, viel können wir voneinander lernen. AgiEL ist bunt gemischt, alle Generationen sind vertreten, ich bin nicht mal die Jüngste! Das fühlt sich richtig gut an. Es wäre natürlich schön, würden noch ein paar mehr junge Menschen dazu kommen.
„Utopien sind nicht so mein Thema. Aber an einen wirklichen Ausstieg aus der Atomkraft, erlaube ich mir ab und zu zu denken.“
Der „eigentliche“ Atomausstieg hat so vielen – auch mir – suggeriert, dass das Thema durch ist. Dass das nicht so ist, zeigen die aktuellen Debatten, zeigen unsere Themen hier in Lingen, und zuletzt gezeigt hat das auch die .ausgestrahlt-Radtour: An so vielen Orten gibt es noch so viel zu tun! Inmitten der Verunsicherung durch die Vielzahl der Krisen und der enormen Komplexität der Themen ist es nun äußerst schwierig, Menschen meines Alters und jüngere wieder selbstverständlicher zum Widerstand gegen Atomkraft, Nuklearindustrie, Atomwaffen und Laufzeitverlängerungen zu bewegen.
Und das, was dann noch bleibt, der Prozess der Standortsuche, ist auch sehr mühselig. Die schwere Last der Verantwortung – die wir Jüngeren ja höchstwahrscheinlich in so vielen Bereichen unfreiwillig tragen müssen – ist nicht einmal das Hauptproblem. Aber die Ausgestaltung dieses Prozesses, die (Un)möglichkeiten der Teilhabe sowie die Absurdität allein des Ziels, einen sicheren Ort für die Lagerung des Atommülls für eine Million Jahre zu finden. Ein Thema, für das man wirklich einen langen Atem braucht. Ich habe großen Respekt vor allen Menschen, die sich genau dort einbringen.
Dem Ausstieg entgegen
Ein paar von ihnen und viele weitere Engagierte durfte ich im Juli auf der Anti-Atom-Radtour 2022 von .ausgestrahlt treffen, die hier in Lingen Station gemacht hat. Es war wirklich total schön und inspirierend, Menschen aus der Bewegung kennenzulernen, ihnen wirklich einmal zu begegnen und nicht nur die Namen aus Mail-Signaturen zu kennen. Ich bin von Ahaus bis Meppen mitgefahren und das war echt ein Highlight dieses Jahr.
Aber es war auch eine seltsame Mischung der Gefühle. Auf der einen Seite so schön, das Gemeinschaftliche und die sommerliche Stimmung. Auf der anderen Seite diese News zu Debatten über Laufzeitverlängerungen: Eine Provokation? Ein harmloses Ablenkungsmanöver? Keiner von uns wollte das zuerst für politisch bedeutsam halten.
Als Anfang September die Stresstest-Ergebnisse bekannt wurden, kam in einem Interview zu den Vorbereitungen unserer Demo am 1.10. die Frage, ob wir sie trotzdem stattfinden lassen würden, da das AKW Lingen wohl von einer Laufzeitverlängerung verschont bleibt. Ich war kurz irritiert, doch dann umso klarer in meiner Antwort: Natürlich ja! Denn selbst wenn „unser“ AKW nicht von der „Einsatzreserve“ betroffen sein sollte, sind wir doch auf jeden Fall solidarisch mit den südlicheren Standorten. Außerdem gibt es ja eben trotzdem noch viel zu tun, hier in Lingen und in all den anderen Regionen in Deutschland. Und sowieso sollten wir nie nur innerhalb unserer Backyards oder unserer Landesgrenzen denken.
Utopien sind nicht so mein Thema. Aber an einen wirklichen Ausstieg aus der Atomkraft in Europa, aus ihrer militärischen Nutzung in der Welt, daran erlaube ich mir ab und an wenigstens mal zu denken.
Protokoll: Pauline Geyer
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