Strom sei auch ohne AKW genügend da, räumt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ein. Dennoch will er den Weiterbetrieb der AKW Neckarwestheim‑2 und Isar‑2 ermöglichen – mit einer hanebüchenen Begründung. Kommt er damit durch?
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will das Atomgesetz ändern und Sicherheitsvorschriften abschwächen, um eine Laufzeitverlängerung der AKW Neckarwestheim‑2 und Isar‑2 zu ermöglichen. Das kündigt er am 26. September nach einer Einigung mit den AKW-Betreibern EnBW und Eon an – mit einer selten unsinnigen Begründung. Denn dass ohne die AKW ein Strommangel drohe, wagt nicht einmal Habeck zu behaupten. Als Feigenblatt für die Laufzeitverlängerung herhalten muss ihm vielmehr das angeblich instabile Stromnetz. „Wir haben kein Strommengenproblem, sondern ein Netzstabilitätsproblem“, so Habeck wörtlich: „Da können die Atomkraftwerke ihren Beitrag leisten.“
Was nach einer seriösen Begründung unter Bezugnahme auf den drei Wochen zuvor vorgelegten Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber klingen soll, ist sachlich unhaltbar und hat mit Versorgungssicherheit nichts zu tun. Habeck beruft sich vielmehr explizit auf den großen Bedarf an zusätzlichen Kraftwerkskapazitäten im Süden Deutschlands, den die Übertragungsnetzbetreiber im Stresstest für bestimmte Situationen ermittelt haben. Dieser Kraftwerksbedarf aber ist eine Schimäre. Denn die angeblich fehlenden Kraftwerke werden, auch das geht aus dem Stresstest hervor, nicht für die Versorgung von Süddeutschland benötigt. Nötig sind sie vielmehr nur für den sogenannten „Redispatch“: damit am Strommarkt Strom verkauft werden kann, für den es real keine Leitungen gibt – mehr dazu im Abschnitt „Markt versus Physik“ im Text Falscher Stress.
In dem von den Netzbetreibern im Stresstest beschriebenen „kritischen“ Szenario fürs Stromnetz, mit dem Habeck den weiteren AKW-Betrieb rechtfertigen will, ist nicht zu wenig, sondern sehr viel Strom im Angebot. Habeck will die AKW am Netz halten, damit ein Kunde aus dem südlichen Ausland sich ohne Rücksicht auf Leitungskapazitäten mit billigem Windstrom aus Norddeutschland eindecken kann und dann real mit Atomstrom aus Neckarwestheim beliefert wird, während die Windkraftanlagen abgeregelt werden. Das ist ökonomischer, ökologischer und politischer Unsinn. Es beweist, dass es Habeck eben nicht um Versorgungssicherheit geht, sondern darum, dem Druck von FDP, CDU und CSU nachzugeben, die seit Monaten nach längeren Laufzeiten für die AKW rufen. Und es dürfte ihm zupass kommen, dass er damit zugleich als „Tabu-Brecher“ Punkte sammeln kann.
Fakten zu ...
Falschinformationen der Betreiber
Habecks Entscheidung für den vermutlichen Weiterbetrieb der AKW ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, bei der führende Grünen-Politiker*innen im Bund sowie in Baden-Württemberg und Bayern seit Monaten die Tür für längere AKW-Laufzeiten immer weiter aufstoßen, während sich die Energiewende-Gegner*innen und Atom-Fans in CDU, CSU und FDP einen Spaß daraus machen, immer neue Forderungen zu erheben. Diese haben klar erklärt, dass ihr Ziel der jahrelange Weiterbetrieb der AKW ist – und man kann davon ausgehen, dass der angekündigte Streckbetrieb der beiden süddeutschen Meiler nur ein weiterer Ansporn für sie ist.
Klar ist inzwischen auch, dass im Gepoker um die Laufzeitverlängerung sowohl der TÜV Süd als auch die AKW-Betreiber selbst ihre Anlagen als leistungsfähiger dargestellt haben, als sie tatsächlich sind. So behaupteten Eon und TÜV, das AKW Isar‑2 könne bis Jahresende mit voller Leistung laufen und selbst in März noch mit 70%. Diese Annahmen liegen auch dem Stresstest zugrunde. Laut der Vereinbarung mit dem Wirtschaftministerium sind aber schon im November nur noch 95% drin, das AKW kann, wenn es aus irgendeinem Grund herunterfahren muss, dann bereits nicht mehr gestartet werden. Spätestens Anfang März ist bei nur noch 50% Leistung, dann endgültig Schluss: Vor einem weiteren Betrieb wäre dann eine mindestens vierwöchige Revision fällig.
Das AKW Neckarwestheim‑2 wiederum müsste Anfang Januar zunächst bis zu drei Wochen pausieren, um aus teilabgebrannten Brennelementen aus dem Lagerbecken einen weiteren Reaktorkern zusammenzustückeln – Sicherheitsrisiko unbekannt. Mit diesem soll die Anlage dann, bei von 70% auf 55% sinkender Leistung, noch bis Mitte April laufen können. Der mögliche Beitrag der beiden AKW zum Redispatch-Potenzial – Habecks Begründung für den Streckbetrieb – ist also deutlich geringer als im Stresstest veranschlagt.
Entscheidung im Dezember
Die für die Laufzeitverlängerung nötige Atomgesetzänderung soll Habeck zufolge noch im Oktober vom Bundestag beschlossen werden – inklusive der Abstriche bei der Sicherheit, die einen Weiterbetrieb der Anlagen erst möglich machen. So hat Habeck, obwohl dies in die Zuständigkeit des Umweltministeriums fällt, mit den Betreibern bereits vereinbart, dass die seit 2019 überfällige Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) für die geplante Laufzeitverlängerung ausgesetzt bleiben und auch der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik bei Sicherheitsanforderungen und Schadensvorsorge nicht eingefordert werden soll. Auf die gefährlichen Risse, die in Neckarwestheim‑2 seit Jahren auftreten und mutmaßlich auch in Isar‑2 vorhanden sind (siehe Magazin-Artikel „Ris(s)kanter Plan“), geht das Papier nicht ein.
Habeck hat angekündigt, die endgültige Entscheidung über den Weiterbetrieb der AKW Anfang Dezember zu fällen, im Fall von Neckarwestheim dann nochmals Anfang Januar. In beiden Fällen, so der Minister, sollten die Ergebnisse und Szenarien des Stresstests maßgeblich sein. Es wäre nicht schlecht, wenn er ihn vorher einmal kritisch lesen würde.
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