Der Schweizer Energieexperte Heini Glauser über uralte Reaktoren, unbegrenzte Laufzeiten und Kooperationen mit Deutschland, die das Atomrisiko reduzieren könnten
Herr Glauser, in Deutschland gehen Ende des Jahres die letzten drei AKW vom Netz. Wie schaut’s in der Schweiz aus?
Das AKW Beznau-1, sieben Kilometer von Waldshut entfernt, wird dieses Jahr 53 – und niemand redet von Ausstieg. Auch die Laufzeit des AKW Beznau-2, des AKW Leibstadt direkt am Hochrhein und des AKW Gösgen, 20 Kilometer von der Grenze entfernt, sind unbegrenzt. Und die Atomlobby hat Rückenwind, seit das Stromabkommen mit der EU auf Eis liegt.
Warum?
Die Schweizer Stromproduktion, 60 Prozent Wasserkraft und 40 Prozent Atomstrom, reicht vor allem im Winter nicht, wegen Elektroheizungen und weniger Wasser. Die Schweiz wollte ein Stromabkommen mit der EU aushandeln. Die EU bestand aber auf einem übergeordneten Rahmenabkommen, diese Verhandlungen hat die Schweiz abgebrochen. Und weil ab 2025 in der EU andere Rahmenbedingungen für Stromhandel gelten, heißt es seither in der Schweiz, dass die Stromversorgung im Winter nicht mehr gesichert sei.
Ein besseres Geschenk hätte man der Atomwirtschaft nicht machen können.
In der Tat. Eine große Mehrheit im Parlament setzt nun erst recht darauf, die AKW möglichst lange weiter zu betreiben. Dabei sitzt die Schweiz mitten im europäischen Stromnetz. Weder technisch noch kommerziell gibt es ein echtes Problem.
Was ist mit erneuerbaren Energien?
In den 1980ern und 1990ern waren wir zusammen mit Deutschland an der Spitze der Solarforschung. Als in Deutschland dann unter Rot-Grün der erste Schub kam, hat sich die Schweiz ausgeklingt und in endlosen Diskussionen zerfleddert. Entsprechend wenig Solaranlagen gibt es, die Rahmenbedingungen sind unattraktiv. Dabei hat die Schweiz hier große Potenziale! Große Wasserkraftwerke hingegen werden subventioniert, es gibt Pläne für neue Speicherseen – obwohl die absolut unwirtschaftlich sind.
In welchem Zustand sind die AKW?
Beznau 1 und 2 haben massive Altersprobleme, der Stahl versprödet. Jetzt werden neue Rechenmethoden genutzt, um die Anlage weiter betreiben zu können. Sie verfügen zudem nicht über redundante, richtig voneinander getrennte Sicherheitssysteme. Das kann man auch nicht nachrüsten, weil sie dafür zu kompakt gebaut sind. Hinzu kommen die Naturgefahren: 1342, 1480, 1570 gab es in der Schweiz und Deutschland extreme Hochwasser. Solche Regenfälle sprengen alle Hochwasserstudien der AKW-Betreiber. Beznau steht auf einer Insel in der Aare, eingeklemmt zwischen zwei Hügelflanken. Da würde über Tage oder Wochen eine riesige Flut durchrauschen, das Wehr links neben dem AKW wäre schnell von Schwemmgut verstopft. Die Atomaufsicht ENSI aber rechnet weiterhin mit nur 40 Zentimeter Überschwemmung. Das ist realitätsblind – genau wie in Fukushima.
Und Leibstadt?
Auch dort erfüllen die Sicherheitssysteme heutige Anforderungen nicht. Vor wenigen Jahren kam es zu Brennstoffschäden, womöglich wegen der sukzessiven Leistungserhöhungen der letzten Jahrzehnte: Die Anlage wird frisiert wie ein Moped. Das Schlimmste aber ist, dass die Atomaufsichtsbehörde ENSI so verbandelt mit den Betreibern ist. Unbegrenzte Laufzeit heißt ja, dass man die Anlagen erst abstellt, wenn sie nicht mehr ausreichend sicher sind. Aber wie merkt man das? Im Zweifel doch erst, wenn etwas passiert!
Die Anti-Atom-Bewegung im Dreiländereck hat schon vor 50 Jahren zusammengearbeitet, Bauplatzbesetzungen haben nicht nur das AKW Wyhl, sondern auch das Schweizer AKW Kaiseraugst bei Basel erfolgreich verhindert …
… und das AKW Schwörstadt, zwischen Rheinfelden und Säckingen.
Und heute?
Ich hoffe stark, dass Deutschland dagegen protestiert, dass an der Grenze vier Hochrisikoreaktoren weiterlaufen, vor allem von Baden-Württemberg muss da Druck kommen. Wir müssen zusammen nach Lösungen suchen! Das jüngst ausgebaute Pumpspeicherwerk Linthal etwa macht für die Schweiz wenig Sinn – als Dienstleistung für Baden-Württemberg aber vielleicht schon. Deutschland könnte der Schweiz in einem bilateralen Abkommen zusichern, dass sie zu gleichen Konditionen wie andere Länder mit Strom versorgt wird. Im Gegenzug könnte die Schweiz den deutschen Netzbetreibern das Pumpspeicherwerk zur Verfügung stellen, um Strom- und Nachfragespitzen auszugleichen – und die Atomkraftwerke an der deutschen Grenze abschalten. Das würde das Atomrisiko für alle reduzieren.
Interview: Armin Simon
Heini Glauser, Energieingenieur, hat nach Fukushima die regelmäßigen ENSI-Mahnwachen ins Leben gerufen und dort mit anderen zusammen, inzwischen mehr als 2.200 Mal, vor dem Sitz der Atomaufsicht in Brugg die Abschaltung des Uralt-AKW Beznau gefordert.
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