„Irreführende Ergebnisse“

02.06.2022 | Armin Simon
Foto: Florival_001 / Wikimedia

Solarexperte Christian Breyer über die angebliche Rolle der Atomkraft beim Klimaschutz und die falschen Annahmen in den Szenarien des Weltklimarats

Herr Breyer, die Atomindustrie versucht, Atomkraft als Lösung in der Klimakrise darzustellen. Was sagt der Weltklimarat (IPCC) dazu?
Christian Breyer: Der jüngste IPCC-Report sagt klar: 100 Prozent erneuerbare Energien sind technisch möglich. Trotzdem spielt Atomkraft in quasi allen IPCC-Szenarien eine Rolle. Man muss aber fragen, wie das kommt.

Und?
Den IPCC-Szenarien liegen sogenannte „Integrated Assessment Modelle“ (IAM) zugrunde. Das sind, vereinfacht gesagt, Prognosen über die künftige Entwicklung des weltweiten Energiesystems unter bestimmten Annahmen und Vorgaben. Und schaut man sich die genauer an, dann sieht man, dass sie im besten Fall verzerrt, wenn nicht schlicht falsch sind, insbesondere für Solarenergie und Atomkraft. Es ist kein Wunder, dass dann irreführende Ergebnisse herauskommen.

Welche Modellannahmen sind falsch?
Erstens sind die angenommenen Kosten für Photovoltaik in quasi allen Szenarien viel zu hoch; Solarstrom soll demnach 2050 noch doppelt so viel kosten, wie es schon vor drei Jahren in Indien Standard war. Das ist einfach Unsinn – aber nach wie vor geht die Mehrzahl der Modelle davon aus. Zweitens veranschlagen die Modelle Atomkraft meist zu billig – weder berücksichtigen sie die Kosten, die beim Bau und Export von AKW tatsächlich anfallen, noch ist eine Haftpflichtversicherung für Atomunfälle mitgerechnet. Und drittens werden die Kosten für die Integration der erneuerbaren Energien in das bestehende Energiesystem teilweise grotesk überschätzt.

Warum?
Diese Modelle bilden den Energiebereich nur sehr grob ab, da sie das Energiesystem in Wechselwirkung mit dem Klimasystem und der Landnutzung neben anderem betrachten. Das ist für viele Zwecke ausreichend. Für belastbare Aussagen zum Energiesystem ist es aber zu ungenau, da die Variabilität von Solar- und Windenergie, aber auch diverse Flexibilitäten quer über das gesamte Energiesystem, nicht abgebildet werden können. Die Modelle rechnen etwa mit Jahres- statt mit Stundenwerten, zudem können sie die Sektorenkoppelung nicht belastbar darstellen. Für ein 100%-Erneuerbaren-System ist das aber entscheidend, in welchem Maß sich Strom, Wärme und Mobilität miteinander koppeln lassen, und ob sich der sehr günstig gewonnene Strom aus erneuerbaren Energien in chemischer Form speichern lässt, das heißt als Flugbenzin, Methan, Methanol und Ammoniak, um dann in der Industrie und im Transportsektor verwendet zu werden.

Hat der IPCC das nicht diskutiert?
Kaum. Man muss sehr tief in die Szenarien einsteigen, um auf diese Fehlannahmen zu stoßen. Das ist in vielen Fällen intransparent. Oftmals stecken auch politische Vorgaben hinter bestimmten Modellen, wie bei der Internationalen Energieagentur (IEA). Deren jüngster „World Energy Outlook“ etwa prognostiziert einen Atomkraft-Ausbau größer denn je, obwohl derselbe Outlook klar benennt, dass das die teuerste Stromerzeugungsart ist. Für die kostengünstigste Stromerzeugungsart dagegen, die Photovoltaik, schreibt das Modell einen Ausbaudeckel vor, und das schon im Jahr 2030 und bei einem deutlich geringeren jährlichen Zubau, als die Photovoltaikindustrie leisten kann und sich bereits darauf vorbereitet. Das ist absurd. Das sind offensichtlich politische Vorgaben, keine technischen oder ökonomischen. Die fossil-atomaren Interessengruppen versuchen nach wie vor, erheblichen Einfluss zu nehmen.

Welche Folgen haben diese Fehlannahmen?
Atomkraft bekommt – auf teilweise wissentlich falscher Grundlage – eine Bedeutung zugesprochen, die sie objektiv nicht hat. Diese Fehleinschätzung hält Staaten davon ab, auf ein gesellschaftlich effizientes Energiesystem, also 100% erneuerbare Energien, zu setzen. Sie werden verunsichert, weil angesehene Institutionen den Eindruck erwecken, als wären 100% erneuerbare Energien nicht möglich.

Gibt es Indizien, dass der IPCC seine Aussagen zu Atomkraft in den nächsten Jahren korrigieren wird?
Das renommierte Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hat Ende 2021 nach Jahren an Diskussionen ein Szenario veröffentlicht, das echte Kosten zu Atomkraft, zu fossilen Energien mit CO2-Abscheidung (CCS), zu Photovoltaik, zu Windkraft und zur Systemintegration erneuerbarer Energien enthält und das technologieoffen ist. Diese Ergebnisse bestätigen Erkenntnisse, die von anderen Arbeitsgruppen mit geringerer Affinität zum IPCC bereits in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurden. Die wissenschaftliche Diskussion wird daran über kurz oder lang nicht mehr vorbeikommen. Dies wird sich dann in zukünftigen IPCC-Berichten wiederfinden.

Und welche Rolle nimmt Atomkraft ein, wenn man das PIK-Modell durchspielt?
Sie wird sehr schnell verschwinden, so wie dies andere Forschergruppen schon seit etlichen Jahren klar prognostizieren. Mit dem PIK-Modell hat diese Erkenntnis nun auch den inneren Kern des IPCC erreicht. Atomkraft ist zu teuer und zu gefährlich.

Interview: Armin Simon

Christian Breyer
Foto: privat

Christian Breyer ist Professor für Solarökonomie an der Lappeenranta-Lahti University of Technology in Finnland und Mitglied der Scientists for Future Deutschland.

 

 

 

Dieses Interview erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 55 (Juni/Juli/August 2022)

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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