Karin Wurzbacher, 78, gründete nach Tschernobyl die „Mütter gegen Atomkraft“ und kämpft gegen den mit waffenfähigem Brennstoff betriebenen Reaktor in Garching. Ein Porträt
Als ich Physik studiert habe, war es sehr modern, das Fach Atomphysik zu belegen. Wir haben gerechnet, wann eine Nuklearreaktion kritisch ist, und was man tun muss, damit sie unterkritisch bleibt. Aber im Grunde bin ich ziemlich naiv an das Thema herangegangen.
Auf einem Vortrag eines kritischen Professors aus München über die Wiederaufarbeitungsanlage, die im bayerischen Wackersdorf gebaut werden sollte, sind dann Wörter wie „Plutonium“, „höchst gefährlich“, „giftig“ gefallen – und mir ist klar geworden, dass es noch eine andere, sehr kritische Seite der Atomenergie gibt, die in den Uni-Vorlesungen nicht angesprochen wurde.
Dann kam Tschernobyl, alles stand Kopf. Und ich habe meinen physikalischen Verstand eingesetzt. Wenn die Wolke bis Bayern kommt, das wusste ich, wird es uns treffen. Man konnte nur versuchen, die Gefährdung zu minimieren. Ich hatte zwei kleine Kinder, im Kindergarten gab es jeden Tag Frischmilch. Ich habe klar ausgedrückt, dass ich nicht mehr möchte, dass sie diese Milch trinken, und dass es für die anderen Kinder auch nicht gut wäre, und dass sie auch nicht mehr jeden Tag draußen spazieren gehen sollten. Danach kamen die Anfragen von anderen Müttern: Erklär uns das mal. So ging es los.
Fast ganz Bayern war ja Hotspot, insbesondere der Süden, wo heftiger Regen die radioaktiven Teilchen aus der Wolke gewaschen hatte. Wir waren eine Gruppe von Frauen hier aus dem Raum Starnberg. Nach dem Schneeballsystem haben wir alle Bekannten angerufen und gesagt: Wir treffen uns am Muttertag am Marienplatz in München und legen unsere verstrahlten Blumen nieder, um ein Zeichen zu setzen. Uns blieben keine zwei Wochen Zeit. Aber zur Demo hatten wir ein Flugblatt, darauf stand schon: Wir fordern, dass alle AKWs in Deutschland abgeschaltet werden. Wir haben nicht gefordert: Wir wollen saubere Nahrung für unsere Kinder!
Auf Flugblättern muss ja immer ein ViSdP stehen. Die arme Mutter, die sich dafür hergegeben hatte, hat in der Folge Anrufe ohne Ende bekommen, von besorgten Menschen. Als nächstes haben wir Infoblätter mit Empfehlungen erstellt, was man tun kann, welche Milch man noch trinken kann und so weiter. Eine Ärztin aus unserer Runde, die als Verantwortliche genannt war, bekam ebenfalls waschkörbeweise Anfragen, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wir waren wirklich am Ende unserer Kräfte. Das ging ja alles ohne Computer. Stundenlang haben wir an einem Biertisch auf unserer Terrasse Infoblätter eingetütet … Es war klar, das konnte keine Dauerlösung sein. Es entstand die Idee, einen Verein zu gründen. Manche wollten einen sanfteren Namen, etwas Positives. Aber ich habe gesagt: Was wollen wir denn? Wir sind gegen Atomkraft. Das müssen wir auch sagen. So wurden wir die „Mütter gegen Atomkraft“.
Bei unseren ersten Demos haben uns Anwohner noch hinterhergerufen: „Geht nach Hause an den Herd!“ Das haben wir einfach ignoriert. Die Staatsregierung hat damals ja jegliche Gefahr negiert, hat Messwerte nicht veröffentlicht oder sie manipuliert. Niemand wusste, was Sache ist, was man noch essen kann. Frauen, Bäuerinnen – alle waren total verunsichert. Viele kamen ratsuchend zu mir. Sozusagen im Auftrag aller Verunsicherten bin ich dann zu Vorträgen kritischer Münchner Professoren gegangen und habe das, was sie erzählt haben, weitertransportiert.
Noch 1986 haben wir das erste Infoblatt erarbeitet, wie der Atomausstieg funktionieren könnte, das hat man uns aus der Hand gerissen. Es gab ein Gutachten vom Öko-Institut dazu, das, nebenbei bemerkt, damals noch hauptsächlich auf Kohlekraftwerke als Ersatz gesetzt hatte, denn das Klimathema stand noch nicht im Vordergrund.
An den Protesten gegen die WAA habe ich lange nicht teilgenommen: Ich hatte einfach Schiss. Ich dachte: Ich muss doch für die Kinder da sein, mir darf nichts zustoßen. Aber dann, beim Erörterungstermin in Neunburg vorm Wald, haben wir einen starken Auftritt gehabt. Antragsteller und Behördenvertreter auf dem Podium hatten es sich gemütlich gemacht, sie dachten wohl: Jetzt kommen ja bloß die „Mütter“. Ich aber hatte festgestellt, dass die im Sicherheitsbericht bei den Emissionen gelogen haben. Ein weiterer Punkt waren die leukämiekranken Kinder in der Umgebung der WAA Sellafield. Ich war total unsicher, hatte meinen Text Prof. Scholz und den Anwälten zu lesen gegeben, um sicher zu gehen, dass ich solche Worte überhaupt benutzen darf. Schließlich stellte ich meine erste Frage – keine Reaktion. Ich: „Antwort, bitte!“ Und nochmal: „ANTWORT, BITTE!“ Erst dann sind alle aufgewacht, nun ging es Schlag auf Schlag. Das mit den Emissionen hat – nach mir! – auch das Öko-Institut moniert. Da hatte ich schon ein bisschen gepunktet. Mein Vortrag hat auch die anderen „Mütter“ motiviert, sie haben ebenfalls Antworten eingefordert. Der Verhandlungsleiter ist am nächsten Tag nicht mehr angetreten.
Bei unseren ersten Demos haben uns Anwohner noch hinterhergerufen: „Geht an den Herd!“
Es gab Tumulte in der abgesperrten Halle, faule Eier flogen. Ich war mit zwei weiteren Frauen draußen, hatte aber furchtbare Angst, weil noch eine Mutter mit kleinem Kind in der Halle war. Da meinte ein altes Oberpfälzer Ehepaar auf einer Bank ganz trocken: „Ja mei, a bissl Rabatz muss scho sei. Weil wenn ma bloß a Schuidl hochhalt, dann hülft des nix.“ Das fand ich so gut! Tags drauf aber dachte ich: War das wirklich ich, die da im Saal gestanden und Anklagen erhoben hatte? Das passte irgendwie nicht zu dem, wie ich mich selber bisher kannte.
Für die Anti-AKW-Bewegung waren wir zunächst nur die „Mütter“, die „Becquerelis“, die Unpolitischen gewesen. Nach Neunburg waren wir anerkannt, in der Folge bin ich viel für Vorträge gebucht worden. Wenn mich mein Mann nicht unterstützt hätte, wäre das gar nicht gegangen.
Manches von damals wiederholt sich. Siemens etwa wollte zu der Zeit eine Typengenehmigung für einen Mini-Reaktor bekommen – den „HTR-MODUL“ mit nur 200 MW thermischer Leistung, das ist ein Zwanzigstel eines heute üblichen AKW. Haben sie aber nie gekriegt – weil ihr Prototyp, der Kugelhaufenreaktor AVR in Jülich, nie ordentlich lief und Siemens das Modul nicht vermarkten konnte. Heute ist wieder von solchen Mini-Reaktoren die Rede – ein Versuch, die untergehende Atomindustrie zu retten.
Die „Mütter gegen Atomkraft“ lösen sich dieses Jahr auf – das Vereinsziel, dass alle AKWs in Deutschland abgeschaltet werden, ist ja erreicht. Und der Informationsbedarf über verstrahlte Nahrung hat natürlich abgenommen. Aber in Süddeutschland muss noch immer jedes erlegte Wildschwein auf Radioaktivität untersucht werden, auch manche Pilzarten sind noch stark belastet: Tschernobyl ist bis heute nicht gegessen. Die „Mütter“ haben auch Hilfsprojekte für die Kinder von Tschernobyl gestartet, eines davon läuft bis jetzt. Die Restgelder des Vereins werden wir deshalb dem ukrainischen Pfadfinderbund geben, der krebskranke Kinder in Kiew unterstützt.
Nachdem meine Kinder aus dem Gröbsten raus waren, bin ich nach einem Aufbaustudium beim Umweltinstitut München gelandet. Schon zuvor war ich in einer Physiker*innen-Arbeitsgruppe zum geplanten Forschungsreaktor FRM‑II in Garching. Den haben wir auch am Umweltinstitut dann kritisch begleitet. Er wird ja mit waffenfähigem Uran betrieben, unter Missachtung jahrzehntelanger internationaler Abrüstungsbemühungen. Die Betriebsgenehmigung wurde daran gebunden, dass er bis Ende 2010 umgerüstet wird auf weniger waffentaugliches Uran. Die TU München verweigert das bis heute. Nun läuft eine Klage dagegen.
Als der Klimaschutz ein großes Thema wurde, hat die Atomindustrie gleich versucht, sich als Klimaretterin zu präsentieren – so absurd das auch ist. Dagegen habe ich mit anderen schon 2007 bei der Klimakonferenz in Bali protestiert, übrigens unter dem Motto „Don’t nuke the climate“. Der Spruch macht ja bis heute Karriere. Aber das „Urheberrecht“ darauf, das haben wir, die damals in Bali protestiert haben.
Protokoll: Armin Simon
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