Der Kampf der Ukraine gegen die Invasion durch Putins Streitkräfte ist weiterhin eines der beherrschenden Thema in den Medien. Auch aus den Atomkraftwerke des Landes erreichen uns besorgniserregende Nachrichten. Ein kurzer Überblick über die Atomenergie in der Ukraine.
Während in Deutschland nach und nach der Atomausstieg vollzogen wird, setzt die Ukraine weiter voll auf Atomkraft. Europas leistungsstärkstes AKW mit einer Leistung von insgesamt 5.700 Megawatt steht in Saporischschja in der Ukraine. Sechs der 15 ukrainischen Reaktoren stehen dort. Einige von ihnen sind aber wegen Angriffen auf das Kraftwerk nicht in Betrieb. Das Kraftwerk liegt am Fluss Dnjepr, an dem sich russische Besetzer und ukrainische Verteidiger bereits seit einiger Zeit gegenüberstehen (Stand August 2022). Landesweit deckte die Atomenergie im Jahr 2021 gut 50 Prozent des Strombedarfs.
1986: Super-GAU in Tschernobyl
Im Norden der Ukraine, im damals russischen Tschernobyl, kam es am 26. April 1986 zum Super-GAU in Block 4 des Atomkraftwerks; die radioaktive Wolke zog über ganz Europa. Die Strahlung ruinierte das Leben und die Gesundheit von Millionen. Neben den 600.000 bis 800.000 Liquidator*innen, die mit Schaufeln und bloßen Händen den radioaktiven Schutt beiseite räumten, traf es die Bewohner*innen der besonders stark verstrahlten Gebiete in Weißrussland, Russland und der Ukraine am schlimmsten. Doch auch im übrigen Europa waren und sind die Schäden gravierend: Nach Angaben der IPPNW sind in Europa bis 2056 etwa 240.000 zusätzliche Krebsfälle wegen Tschernobyl zu erwarten. Daneben waren vor allem die Kinder besonders betroffen: In den Monaten nach dem Super-GAU war in ganz Europa nicht nur die Zahl der Fehlbildungen, sondern auch die der Totgeburten und die Säuglingssterblichkeit deutlich erhöht. Zehn Jahre nach der Reaktorkatastrophe waren 70 Prozent der Kinder in den Gebieten rund im Tschernobyl nicht mehr gesund. Auch die psychologischen, sozialen und ökologischen Folgen wirken bis heute nach.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Gefahren der Atomenergie in der Diskussion in der Ukraine offenbar keine Rolle mehr spielen. Bereits im Oktober 1993 wurde das 1990 vom Parlament beschlossene Moratorium für den Neubau von AKWs wieder aufgehoben.
Die Blöcke 1 bis 3 des Atomkraftwerks Tschernobyl wurden zwischen 1991 und 2000 nach und nach abgeschaltet. Doch von dem gerade einmal zwei Autostunden von der Hauptstadt Kiew entfernten Tschernobyl gehen noch heute Gefahren aus – das gilt in Kriegszeiten umso mehr. Nachdem der 1986 provisorisch gebaute „Sarkophag“ zerfiel und die Bevölkerung nicht mehr schützte, wurde 2016 das „New Safe Confinement“ fertiggestellt. Es ist auf eine Lebenszeit von 100 Jahren ausgelegt. In den dafür eingerichteten „Chernobyl Shelter Fund“ zahlten 45 Staaten und Organisationen insgesamt 1,6 Milliarden Euro ein. Alleine von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), dem größten Einzelspender, kamen mehr als 300 Millionen.
Auf dem Gelände des AKW Tschernobyl befinden sich außerdem zwei Zwischenlager: Ein Nasslager sowjetischer Bauart ging 1986 in Betrieb und enthält die Brennelemente aus den Blöcken 1 bis 3 des AKW Tschernobyl. Ein Trockenlager („Castor-Garagen“) ging 2021 in Betrieb. Hier sollen die Brennelemente aus dem Nasslager und abgebrannte Brennelemente aus drei der vier anderen ukrainischen Atomkraftwerken 100 Jahre lang gelagert werden. Bisher stehen dort knapp 1.700 abgebrannte Brennelemente (Stand: Januar 2022).
Langer Weg aus der Abhängigkeit
Die Ukraine versucht seit Jahren, ihre Abhängigkeit von russischem Öl, Gas und Atombrennstoff zu reduzieren. Russland beteiligte sich nicht nur an einer Modernisierung der ukrainischen AKW, die allesamt noch aus Sowjetzeiten stammen, sondern lieferte auch Brennelemente und nahm den entstandenen Atommüll jahrzehntelang wieder zurück. Nach anfänglichen Kompatibilitätsproblemen bezieht die Ukraine inzwischen 60 Prozent der Brennstäbe für ihre Reaktoren vom US-Atomkonzern Westinghouse (Stand: Februar 2021). Der Rest kommt vorerst weiter von TVEL aus Russland. Im Juni 2022 haben Westinghouse und der Staatskonzern Energoatom, der alle AKW betreibt, vertraglich festgelegt, dass Westinghouse in Zukunft alle ukrainischen Reaktoren mit Brennstäben versorgen soll. Der Brennstoff soll aus Schweden kommen, die Fertigung der Brennstäbe in der Ukraine erfolgen.
Laufzeitverlängerungen und Expansionspläne
Eigentlich hätten 12 der 15 Atomreaktoren zwischen 2010 und 2020 mit dem Ablauf der geplanten Laufzeit vom Netz genommen werden müssen. Stattdessen verlängerten Energoatom, die staatliche Regulierungsbehörde und die Regierung die Laufzeit der Meiler, teilweise sogar um 20 Jahre. Kraftwerke, die für eine Lebensdauer von 30 Jahren gebaut worden waren, sollen also nun erst nach 50 Jahren vom Netz genommen werden. Nach dem Reaktorunfall von Fukushima wurden auch für die ukrainischen AKW sogenannte „Stresstests“ durchgeführt. Die daraufhin ausgesprochenen Empfehlungen für ergänzende Sicherheitsmaßnahmen wurden bis heute nicht vollständig umgesetzt. Insgesamt wurden in den letzten Jahren 1,45 Milliarden Euro in die alten Reaktoren investiert; 600 Millionen Euro davon kamen von der EBWE sowie der EURATOM. Trotz dieser immensen Ausgaben steigen die Risiken, da der Austausch wichtiger und hoch beanspruchter Kraftwerkskomponenten, etwa des Reaktordruckbehälters, nicht vorgesehen ist.
Gleichzeitig plant die Ukraine den Bau weiterer Reaktoren. Energoatom hat einen massiven Ausbau der Atomenergie angekündigt. Erreicht werden soll dies durch die Fertigstellung der Reaktoren Chmelnyzkyj 3 und 4 und den Bau weiterer Reaktoren, darunter auch SMR des US-Unternehmens Holtec International. Den überschüssigen Strom will die Ukraine in die Europäische Union exportieren. Die Bauarbeiten bei Chmelnyzkyj 3 und 4 begannen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und standen seit 1990 still. Nachdem die Verträge über die Fertigstellung von ukrainischer Seite aufgekündigt wurden, ist das Projekt aufgrund einer Verordnung von Präsident Wolodimir Selenskyj zwar offiziell zwar wieder im Bau, doch tatsächlich scheint auf der Baustelle nicht viel zu passieren. Auch weitere Reaktoren könnten an diesem Standort entstehen. Im August 2021 unterzeichneten Selenskyj und Westinghouse ein Memorandum über den Bau von bis zu fünf Kraftwerksblöcken in der Ukraine. Sogar in der aktuellen Kriegssituation setzt das Land weiter voll auf Atomkraft. Im Juni 2022 unterschrieb der staatliche ukrainische Energieversorger Energoatom ein Abkommen mit Westinghouse über den Bau von weiteren vier Reaktoren. Insgesamt soll Westinghouse in der Ukraine also neun Reaktoren bauen.
Störfälle und Kriegsgefahren
Immer wieder finden sich in der ukrainischen Presse Berichte über Störfälle in den AKW. Schon in friedlichen Zeiten ist es gefährlich, auf Atomkraft zu setzen. Und Putins Angriff auf die Ukraine zeigt, wie sich diese Gefahr in geopolitisch instabilen Zeiten potenziert:
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Bei Schäden oder starken Spannungsschwankungen im Hochspannungsnetz oder gar einem Ausfall der Stromversorgung muss ein AKW vom Stromnetz getrennt und kontrolliert heruntergefahren werden. Es muss sich dann zunächst im Inselbetrieb selbst versorgen, also nur noch genau so viel Strom erzeugen, wie es selber verbraucht, unter anderem für Sicherheitsleittechnik und vor allem die Kühlwasserpumpen. Dieser „Lastabwurf auf Eigenbedarf“ ist fehleranfällig und gelingt längst nicht immer. Dann muss das Kraftwerk notabgeschaltet werden und ist von da an auf Dieselgeneratoren angewiesen. Auch diese sind störanfällig und brauchen zudem große Mengen Diesel – der in Kriegszeiten knapp sein könnte.
- Kein AKW ist gegen direkten Beschuss geschützt. Dass eine der Kriegsparteien gezielt Schäden an ukrainischen AKW herbeiführt, ist zwar eher unwahrscheinlich, weil eine radioaktive Wolke beide Länder kontaminieren würde. Fehlschüsse, zufällige Treffer und Unterbrechung der Stromversorgung durch Kampfhandlungen sind aber alles andere als ausgeschlossen. Auch Atommüll-Lager, insbesondere mit hochradioaktiven abgebrannten Brennelementen, könnten bei Beschädigung oder Unterbrechung der Kühlung große Mengen radioaktiver Stoffe freisetzen.
- Denkbar sind auch Terrorangriffe und Sabotage: Bereits 2015 musste ein AKW notabgeschaltet werden, weil das Stromnetz aufgrund der Sprengung von Hochspannungs-Masten in der Krim-Region durch Separatisten nicht mehr stabil war.
- Muss ein großes Kraftwerk abgeschaltet werden, fällt die Stromversorgung ganzer Regionen aus. So versorgt das AKW Saporischschja fast den gesamten Süden der Ukraine mit Strom.
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien, Rafael Grossi, warnte bereits vor der Gefahr eines schweren Atomunfalls in Folge der Kämpfe.
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien, Rafael Grossi, warnte bereits vor der Gefahr eines schweren Atomunfalls infolge der Kämpfe. Aktuell gebe es zwar keine Anzeichen dafür, dass vom AKW Saporischschja eine unmittelbare Gefahr ausgehe, das könne sich aber bei weiteren Kampfhandlungen jederzeit ändern.
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