Der Bau des EPR-Reaktors in Flamanville sollte die ganze französische Atomwirtschaft neu lancieren. Das ging gewaltig schief – weswegen selbst der staatliche Atomkonzern EDF mit Blick auf eventuelle weitere Neubauten nun auf ein Nachfolgemodell setzt
Das Drama begann vor 17 Jahren und wurde damals als Sternstunde der französischen Atomindustrie gefeiert: 2005 beschloss der staatliche französische Energieversorger und AKW-Betreiber Electricité de France (EDF), neben dem in die Jahre gekommenen AKW in Flamanville an der normannischen Westküste einen mit 1.600 Megawatt deutlich leistungsstärkeren Druckwasserreaktor neuester Technologie zu bauen. AREVA pries diesen mal „Evolutionary“, mal „European“ Power Reactor (EPR) genannten Typ als Nonplusultra der modernen Atomtechnologie an: Mehr Leistung bei gleichzeitig größerer Sicherheit, so das Versprechen.
Am 9. Juli 2020 publizierte der französische Rechnungshof seinen Bericht zum finanziellen Debakel des Projekts. Das Urteil fällt vernichtend aus, seine Bedeutung reicht weit über Flamanville hinaus. Die Analyse zwinge zu einem grundsätzlichen Überdenken der französischen AKW-Politik, bilanzierte der Rechnungshofspräsident, Ex-EU-Kommissar Pierre Moscovici: „EDF hat (…) die eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten überschätzt und die Kosten und ungelösten Probleme unterschätzt.“
EDF ging Anfang der Nullerjahre von Kosten in Höhe von 3,4 Milliarden Euro und einer Bauzeit von fünf Jahren aus. Der EPR Flamanville sollte 2012 ans Netz gehen und als Vorzeigeprodukt des französischen Atom-Know-hows zum Exportschlager werden. Heute, nach unzähligen Schwierigkeiten und ständigen Verzögerungen, geht EDF davon aus, dass die Anlage frühestens im Jahr 2024 ans Netz gehen wird. Die reinen Baukosten belaufen sich laut EDF auf 12,7 Milliarden Euro, hinzu kommen laut Rechnungshof – Stand 2020 – allerdings 4,2 Milliarden Euro Finanzkosten sowie weitere 2,5 Milliarden Euro bis zur geplanten Inbetriebnahme. Die Gesamtkosten würde dies auf stolze 19,4 Milliarden Euro erhöhen, dem 5,7-fachen der ursprünglich veranschlagten Kosten.
„Sehr ernste“ Sicherheitsmängel
2017 kam heraus, dass AREVA mit technischen Mängeln behaftete Bauteile geliefert hatte, darunter vor allem den zentralen, bereits eingebauten Reaktordruckbehälter mit fehlerhaften Schweißnähten, der in der AREVA-Tochterfirma Creusot Forge hergestellt worden war. „Es handelt sich um einen Fabrikationsmangel, den ich als ernst oder sehr ernst bezeichnen würde, weil er einen entscheidenden Bestandteil betrifft“, sagte der damalige Chef der französischen Atomaufsicht (ASN) Pierre-Franck Chevet.
Allerdings verzichtete die ASN darauf, den finanziell kaum tragbaren Austausch des bereits eingebauten Reaktordruckbehälters zu verlangen, und begnügte sich mit weniger teuren, aber auch weniger sicheren Reparaturmaßnahmen an den defekten Schweißnähten. Lediglich der mehr als 100 Tonnen schwere Deckel des Reaktordruckbehälters muss ersetzt werden, dies allerdings erst 2024, entschied sie. Inzwischen ist unklar, ob der Reaktor vorher überhaupt ans Netz geht. Der in Flamanville produzierte Strom wird laut Rechnungshof doppelt so viel wie jener aus den 56 Reaktoren des bisherigen französischen AKW-Parks kosten.
Ein Debakel auch in Finnland
Nicht besser als in Flamanville läuft es auch beim ursprünglich deutsch-französischen EPR-Projekt in Finnland. Bereits 2005, noch vor dem Baubeginn in Flamanville, war die Baugenehmigung für den EPR-Reaktor im finnischen Olkiluoto erteilt worden. Der Auftrag wurde nach Jahren der Flaute im Nuklearbusiness als großer Exporterfolg gefeiert.
Das grundsätzliche Design des EPR war bereits 1998 festgelegt worden. 2001 hatten die Unternehmen Siemens und Framatome ihre Nuklearaktivitäten unter dem Namen Framatome ANP zusammengefasst. 2006 wurde daraus AREVA NP. Die Anfangsfreude währte nicht lange: 2011, nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima und den in Olkiluoto aufgetauchten Problemen, beendete Siemens sein EPR-Engagement und verkaufte seine Nuklearsparte kurzerhand ganz nach Frankreich. AREVA ist seither allein für die finnische Baustelle zuständig, die sich schnell als ähnlich desaströs erwies wie die in Flamanville. „Der Bau in Finnland hatte zur Folge, dass AREVA 2015 finanziell am Abgrund stand und der französische Staat eine mit 7,5 Milliarden Euro ausgesprochen teure Rettungsaktion starten musste“, sagte Rechnungshof-Präsident Moscovici im Sommer der Zeitung „Le Monde“.
Dabei hätte der EPR an der Westküste Finnlands eigentlich 2009 in Betrieb gehen sollen – doch regulär Strom soll er nach derzeitigem Stand erst im Sommer 2022 erzeugen, 17 Jahre nach Baubeginn. Schuld sind wie in Flamanville technische Probleme, Pannen und eine schludrige Projektleitung. Die Baukosten haben sich fast vervierfacht.
Neues Abenteuer Hinkley Point C
Doch Frankreichs Reaktorbauer haben aus Flamanville und Olkiluoto scheinbar nichts gelernt: Zwei weitere EPR-Reaktoren baut die EDF derzeit im britischen Hinkley Point, diesmal in einem Konsortium mit chinesischen Unternehmen. Die Kosten sollen sich auf 20 Milliarden Euro belaufen. Finanziert wird das Ganze zu 66,5 % von der EDF und zu 33,5 % von China General Nuclear (CGN), entsprechend den Anteilen am Konsortium. Zur weiteren Absicherung der Investition versprach die britische Regierung einen staatlich garantierten Abnahmepreis von 10,8 Cent pro Kilowattstunde, und das für 35 Jahre. Kein Offshore-Windpark bekommt eine solche Vergütung zugesichert. Zusätzlich gibt es eine Kreditgarantie von rund 19 Milliarden Euro. Tatsächlich fallen – Stand 2020 – insgesamt Kosten in Höhe von 28,4 Milliarden Euro an. Dass ein chinesisches Staatsunternehmen am Bau eines Atomkraftwerks in Europa beteiligt ist, gefällt dabei nicht allen. Vor dem Investitionsentscheid war es EDF-intern zudem zu einer Zerreißprobe gekommen: Der EDF-Finanzchef trat zurück, weil nicht nur er, sondern auch die Gewerkschaftsvertreter*innen im Verwaltungsrat den Entscheid für Hinkley Point finanziell für unverantwortlich hielten.
Systematischer Konstruktionsfehler?
Die einzigen zwei EPR-Reaktoren weltweit, die tatsächlich schon laufen, gingen 2019 im südchinesischen Taishan ans Netz. Zwei Jahre später sorgten sie bereits weltweit für Schlagzeilen. In einem der Reaktoren war offenbar eine größere Zahl Brennelemente undicht geworden, Radioaktivitätswerte stiegen. Ein Whistleblower hat inzwischen öffentlich gemacht, dass wohl ein Konstruktionsfehler des Reaktordruckbehälters zu unerwünschten Strömungen in diesem führt. Die dadurch hervorgerufenen Vibrationen beschädigen Brennelemente und Brennstäbe. Französische und britische Reaktorexpert*innen warnen, dass es sich in diesem Fall um einen systematischen Designfehler des EPR handeln würde. In diesem Fall wäre auch in den anderen EPR-Reaktoren mit Schäden zu rechnen.
Angesichts der bisherigen EPR-Debakel setzt die EDF neuerdings auf einen noch zu entwickelnden Nachfolgereaktor namens EPR 2 – „ein Reaktor für den Einsatz in Frankreich, der dem EPR nahe verwandt ist und von den Erfahrungen mit diesem profitieren kann, aber kostenmässig und bautechnisch optimiert ist“, wie sie einmal mehr vollmundig verspricht. Bisher liegt von diesem allerdings nur ein grobes „basic design“ vor (siehe Interview „Wie ein Kartenhaus“). Ein erstes Exemplar eines solchen Reaktors, so steht es in einem jüngst geleakten internen Regierungspapier, könne frühestens 2039 in Betrieb gehen – wenn alles gut läuft, wohlgemerkt.
weiterlesen:
- Versuch und Irrtum
12.2.2022: Kein Land weltweit hängt so am Atom-Tropf wie Frankreich. Die Anti-Atom-Bewegung dringt medial nur schwer durch. Dabei hält weder der Netzbetreiber noch die Bevölkerung Atomkraft für so unverzichtbar wie die Politik - „Wie ein Kartenhaus“
14.2.2022: Atomindustrie-Experte Mycle Schneider über die massiven Probleme der Atomenergie in Frankreich, die Pläne für neue Reaktoren und die Realitätsverweigerung der Politik - Insider-Infos aus China können französisches Atomflaggschiff EPR versenken
9.12.2021: Als Antwort auf Tschernobyl begann 1989 die Entwicklung eines Reaktors der dritten Generation. Der Europäische-Druckwasser-Reaktor EPR hat in Europa noch keine Kilowattstunde erzeugt. Trotz multipler Desaster zog niemand die Reißleine. Nun enthüllt ein Whistleblower einen System-Fehler, der das Ende des EPR sein müsste. - Mehr zum Thema AKW-Generation IV
Reaktorkonzepte der „Generation IV“ sollen die ungeliebte Atomkraft wieder salonfähig machen. „Sicher, sauber, billig“ lautet das Versprechen. Tatsächlich lösen die Nuklearvisionen keines der zahlreichen Atom-Probleme. Und die meistgehypten neuen AKW-Modelle liefern sogar Rohstoff für Atombomben frei Haus - Was ist los in Taishan?
18.06.2021: Die Meldung von einer „bevorstehenden radiologischen Bedrohung“ in einem chinesischen Reaktor ließ international aufhorchen. Während die USA warnte, beschwichtigte China. Gab es einen schweren Störfall in dem Europäischen Druckwasserreaktor, der erst 2018 in Betrieb genommen wurde?