Versuch und Irrtum

12.02.2022 | Armin Simon
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Kein Land weltweit hängt so am Atom-Tropf wie Frankreich. Die Anti-Atom-Bewegung dringt medial nur schwer durch. Dabei hält weder der Netzbetreiber noch die Bevölkerung Atomkraft für so unverzichtbar wie die Politik

Der Protestaufzug ist bunt und bunt gemischt: 600 Atomkraftgegner*innen jeden Alters ziehen Anfang Oktober in Richtung des AKW Bugey östlich von Lyon. Die ältesten vier noch laufenden Reaktoren Frankreichs stehen hier, zudem gilt Bugey als potenzieller Neubau-Standort. „40 Jahre sind genug“, steht auf den Bannern. Und dass man weder eine Laufzeitverlängerung der Uralt-Meiler noch den Bau neuer akzeptieren werde. Es ist eine von unzähligen Anti-Atom-Aktionen rund ums Jahr im ganzen Land: gegen Laufzeitverlängerungen, Neubaupläne, Atommüll-Lager, Zwischenlager, radioaktive Altlasten und instabile Deiche vor Atomanlagen. Mehr als 100 Anti-Atom-Initiativen und ‑Organisationen vereint das Atomausstiegsnetzwerk „Sortir du nucléaire“, dazu mehr als 60.000 Einzelpersonen. Eine paar Aktive bereiten für den Sommer einen mehrwöchigen Marsch von der WAA La Hague bis nach Paris vor; unterwegs wollen sie in zahllosen Veranstaltungen die Energiepolitik diskutieren, oder: die Atomfixiertheit in den Köpfen und der Politik in Frage stellen.

Kein Land weltweit hängt dermaßen am Atom-Tropf wie die „Grande Nation“. Und doch ist der Rückhalt dafür in der Bevölkerung lange nicht so groß wie oftmals angenommen. In einer aktuellen, von „Sortir du nucléaire“ in Auftrag gegebenen repräsentativen Meinungsumfrage gaben 58 Prozent der Befragten an, sie seien bereit, eine*n Präsident*in zu wählen, der*die Frankreich zum Ausstieg aus der Atomkraft verpflichten würde. Unter den Anhänger*innen der französischen Linken sind es sogar 80 Prozent. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im April, der amtierende Präsident Macron und die konservative Valérie Pécresse, hat das bisher nicht interessiert. Macron hat sich erst kürzlich zur zivilen und militärischen Atomtechnik als Grundlage der „grandeur“, der „Größe“ Frankreichs bekannt. Und dass er es höchstwahrscheinlich geschafft hat, Atomkraft ein „grünes“ EU-Label zu verschaffen (siehe FAQ zur Taxonomie), rechnet er sich als Erfolg an.

Ganz praktisch steht die Regierung allerdings vor dem Problem, dass die 56 Reaktoren, die immerhin noch zwei Drittel des französischen Stroms erzeugen, im Schnitt schon mehr als 36 Jahre auf dem Buckel haben.

42 sind bereits älter als 30 Jahre, weitere sieben schon jenseits der 40. Das bleibt nicht ohne Folgen. Noch nie war die Verfügbarkeit des französischen Reaktorparks so niedrig wie im letzten Jahr; Ausfälle und Alterungsschäden häufen sich. Sogar die jüngsten Reaktoren sind davor nicht gefeit. So musste EDF vor wenigen Wochen und mitten im Winter fünf AKW stilllegen, darunter die vier neuesten und leistungsstärksten, weil in Schweißnähten des Noteinspeisesystems der Reaktoren gefährliche Risse entdeckt wurden. Ursache ist die auch im AKW Neckarwestheim (dort an anderen Bauteilen) auftretende Spannungsrisskorrosion, unbestritten ein Alterungsphänomen.

Noteinspeiseleitung im AKW Civaux
Foto: ASN
Noteinspeiseleitung im AKW Civaux

Systematische Fehler

Wie viele weitere französische Reaktoren denselben Schaden aufweisen, ist unklar. EDF sei dabei, die Ergebnisse der zurückliegenden Ultraschalluntersuchungen erneut zu überprüfen, heißt es. Ursprünglich waren nirgendwo solche Risse aufgefallen. „Sollten wir daraus schließen, dass die Untersuchungen oberflächlich waren?“, fragt, eher rhetorisch, „Sortir du nucléaire“.

Schlimmer noch, erwidert Yves Marignac, ein atomkritischer Reaktorsicherheitsexperte: Niemand habe damit gerechnet, dass solche Risse an diesem Bauteil überhaupt auftreten könnten. Durch die mannsdicken Rohre des Noteinspeisesystems (siehe Foto oben) wird bei einem Leck oder Druckabfall im Primärkreislauf mit Borsäure versetztes Wasser in den Reaktorkern gepumpt, um die nukleare Kettenreaktion zu stoppen. Das soll ein Überhitzen und Schmelzen der Brennelemente verhindern. Ein Abriss einer solchen Einspeiseleitung wäre ein auslegungsüberschreitender Unfall, ein Super-GAU. Auch in der Atomindustrie, gab der Chef des Atomkonzerns Orano, Philippe Knoche, jüngst im „Spiegel“ ungerührt zu Protokoll, „gilt das Prinzip von Versuch und Irrtum“.

Selbst der Präsident der nationalen Atomaufsichtsbehörde ASN, Bernard Doroszczuk, wählt ob der katastrophalen Situation inzwischen deutliche Worte. Die französische Stromversorgung, mahnte er in seiner Neujahrsansprache, brauche „zwingend“ ausreichend Reserven, um auch mit Ereignissen klarzukommen, die mehrere Reaktoren zugleich beträfen, also systematischen Fehlern wie die jüngst entdeckten Risse. Darauf habe seine Behörde in den vergangenen Jahren schon mehrfach hingewiesen. Die Politik müsse sich „ab sofort“ darum kümmern. Es klang fast wie ein Hilferuf.

Die unerwarteten Risse, die wochenlange AKW-Stillstände verursachen, bewiesen aufs Neue, dass Atomkraft alles andere als zuverlässig sei, unterstreicht „Sortir du nucléaire“. Die große Abhängigkeit vom Atomstrom führe so zu einem „gefährlichen Konflikt zwischen Sicherheit und Versorgungssicherheit“. Der ASN-Chef hatte das etwas diplomatischer, aber inhaltlich nicht viel anders formuliert.

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Risiko Atommüll

Doroszczuk benannte auch die zweite „Fragilität“ der französischen Stromversorgung: das Atommüll-System. 1,7 Millionen Kubikmeter strahlende Abfälle führt die Atommüll-Behörde ANDRA in ihrer Jahresstatistik auf. Doch die hochradioaktiven abgebrannten Brennelemente tauchen darin gar nicht auf: Nach offizieller Lesart soll das Uran und Plutonium daraus ja wiederverwertet werden, weswegen es sich nicht um Abfälle handele. Allerdings kommt die WAA in der Normandie, auch wegen technischer Defekte, mit dem Wiederaufarbeiten seit Langem nicht mehr hinterher. Allein in ihrem Eingangslagerbecken liegen hochradioaktive Brennstäbe in der Größenordnung von 9.000 Tonnen Uran und Plutonium – das ist in etwa so viel wie das gesamte Inventar der 17 Castor-Zwischenlager in Deutschland zusammen. Hinzu kommt der Strahlenmüll in den Abklingbecken der mehr als 50 Reaktoren sowie zigtausend Tonnen bereits wiederaufarbeitetes Uran, das keine Verwendung findet, und fast 60 Tonnen extrahiertes Plutonium. Ohne weitere Lagerkapazitäten, warnt der Atomaufseher, droht auch von dieser Seite schon bald ein Ausfall von Reaktoren.

Von einer „Realitätsverweigerung“ der politischen Entscheidungsträger, die immer noch unbeirrt auf Atomkraft setzen, spricht Atomindustrie-Experte Mycle Schneider (siehe Interview „Wie ein Kartenhaus“). Doch gemessen an der enormen Anfälligkeit des nuklearen Kartenhauses, das an allen Enden wackelt, dringt die Anti-Atom-Bewegung mit ihren Argumenten nur schwer durch. „Wir schaffen es schon mal in die Medien“, sagt Charlotte Mijeon, Sprecherin von „Sortir du nucléaire“: „Aber wir stehen einer mächtigen Lobby gegenüber, die in der Lage ist, großangelegte PR-Kampagnen durchzuführen und überall ihre Märchen zu streuen.“

Der staatliche Stromkonzern EDF strebt eine Laufzeitverlängerung aller Reaktoren auf mindestens 50, wenn nicht 60 Jahre an, die Regierung redet davon, dass sie neue große und neue kleine Reaktoren bauen wolle, und stellt die Wiederbelebung der Atomkraft als alternativlos dar. Tatsächlich zeigen selbst vom französischen Netzbetreiber RTE entworfene Szenarien, dass das Festhalten an Atomkraft kein Muss ist: Genauso gut möglich wäre eine bis 2050 auf 100 % Erneuerbaren Energien fußende Stromversorgung. „Das Festhalten an der Atomkraft ist extrem riskant: Die Annahme, dass die AKW-Laufzeiten risikolos massiv verlängert werden könnten und die französische Atomindustrie in der Lage wäre, neue Reaktoren mängelfrei und pünktlich aus dem Boden zu stampfen, ist pure Autosuggestion“, kommentiert Mijeon: „Ein Atomausstieg hingegen ist technisch möglich, sichert die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Klimaziele und würde uns das Risiko eines Atomunfalls ersparen! Und überdies würde er nicht einmal mehr kosten.“

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 54 (Feb./März./Apr. 2022)

weiterlesen:

  • „Wie ein Kartenhaus“
    14.2.2022: Atomindustrie-Experte Mycle Schneider über die massiven Probleme der Atomenergie in Frankreich, die Pläne für neue Reaktoren und die Realitätsverweigerung der Politik
  • Insider-Infos aus China können französisches Atomflaggschiff EPR versenken
    9.12.2021: Als Antwort auf Tschernobyl begann 1989 die Entwicklung eines Reaktors der dritten Generation. Der Europäische-Druckwasser-Reaktor EPR hat in Europa noch keine Kilowattstunde erzeugt. Trotz multipler Desaster zog niemand die Reißleine. Nun enthüllt ein Whistleblower einen System-Fehler, der das Ende des EPR sein müsste.
  • Die Wasserstoff-Strategie Frankreichs – Jungbrunnen der Atomindustrie?
    7.10.2021: In der ersten Hälfte des Jahres 2022 wird die EU-Ratspräsidentschaft von Frankreich geleitet. Es ist damit zu rechnen, dass die Präsidentschaft dazu genutzt werden soll, den Green Deal, die EU-Taxonomie und das „Fit for 55“-Paket atomindustriefreundlich auszugestalten. Gleichzeitig laufen deutsch-französische Wasserstoff-Projekte von besonderer europäischer Wichtigkeit an, die sogenannten Important Projects of Common European Interest (IPCEI). Ebenso stehen in Frankreich strategische Weichenstellungen hinsichtlich neuer AKW und der Finanzierung von Laufzeitverlängerung an. Grund genug, sich die französische Wasserstoff-Strategie einmal genauer anzuschauen.
  • Wilde Atommüll-Tauschgeschäfte zwischen Frankreich und Deutschland
    17.6.2021: Weil sich Transportprobleme nicht lösen lassen, haben Deutschland und Frankreich Atommüll getauscht. Das reduziert die Anzahl an nötigen Atommüll-Fuhren durch Deutschland auf eine einzige – erhöht aber das Risikopotential erheblich. Möglich wurde dieser Deal durch eine kurzfristige, intransparente Gesetzesänderung.
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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