„Das ist so, als würde man Pommes frites als Salat bezeichnen“

14.01.2022 | Jan Becker
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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält an ihrem Plan fest, Atomenergie als „nachhaltig“ zu labeln. Erste Finanzinstitute outen sich als Befürworter. Politik, Wissenschaft und Bevölkerung protestieren und sprechen vom „größten Greenwashing aller Zeiten“.

Allein für die bestehenden AKW würden bis 2030 Investitionen in Höhe von 50 Milliarden Euro erforderlich sein, so der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Für die „neue Generation“ würden 500 Milliarden benötigt. Um dieses „notwendige Kapital anzulocken“, sei es entscheidend, Atomkraft als nachhaltige Energieform einzustufen. „Wir werden sie brauchen, solange es nicht genügend erneuerbare Energien gibt“, schwur kürzlich Ursula von der Leyen ihre Amtskolleg*innen ein. Sie stehe „voller Überzeugung“ hinter dem Vorschlag, Gas und Atomkraft in die sogenannte Taxonomie aufzunehmen – und die beiden Energieträger damit für „nachhaltig“ zu erklären. Geschichte wiederholt sich offenbar: Es war schließlich ihr Vater und ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen, der eine wesentliche Verantwortung daran trägt, dass Gorleben 1979 zum künftigen Endlagerstandort ernannt wurde. Bekanntlich sind die Pläne 40 Jahre später gescheitert – und waren sehr teuer.

Protest wirkt: Beratungszeitraum verlängert

Nachdem die EU-Kommission nach monatelangen Verhandlungen und immer neuen Verzögerungen zum Jahreswechsel einen Taxonomie-Entwurf vorgelegt hatte, ist wegen erheblicher Widerstände aus der Politik, Wissenschaft und Bevölkerung das Zeitfenster für Stellungnahmen aller EU-Staaten bis zum 21. Januar verlängert worden.

Die Liste derer, die eine Taxonomie mit Atomenergie (und Gas) ablehnen, ist mittlerweile sehr lang. Dazu gehören der Club of Rome mit namhaften Wissenschaftler*innen, Ökonomen, Wirtschaftsführer*innen und ehemaligen Politiker*innen. Die kirchlichen Hilfswerke „Brot für die Welt“ und „Misereor“ warnen vor „massiver Menschenrechtsverletzungen“ bei der Förderung von Uran und Gas. In einem offenen Brief an die Bundesregierung fordern die Umwelt- und Klimaorganisationen Deutscher Naturschutzring, Bellona Deutschland, Bioland, Campact, Deutsche Umwelthilfe, E3G, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, Germanwatch, Klima-Allianz Deutschland, Naturschutzbund Deutschland, Umweltinstitut München und WWF Deutschland: „Bitte stoppen Sie die Aufnahme von Atom und Erdgas in die EU-Taxonomie!“ In nur vier Tagen sammelten BUND, Campact, Deutsche Umwelthilfe, Bürgerbewegung Finanzwende, Greenpeace, IPPNW, NABU, Umweltinstitut München und Uranium Network über 220.000 Unterschriften. Das Satiremagazin „Extra3“ widmet dem „Ökosiegel“ für Atomkraft ihr Label „Irrsinn der Woche“. Stellvertretend für die Bewegung "fridaysforfuture" nennt Aktivistin Luisa Neubauer die Pläne „verlogen & brandgefährlich“, sie seien ein „lächerlicher Versuch, fossile Energien als Teil der Lösung darzustellen und weiterhin die Klimakatastrophe voranzutreiben“. Atomenergie sei „keine Zwischenlösung zur Milderung des Klimawandels“, sie als „grün“ zu bezeichnen ist „Hohn“, so Klimaforscher Mojib Latif, Leiter des Forschungsbereiches Ozeanzirkulation und Klimadynamik am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Der Chef der IG Metall erteilt den Plänen eine deutliche Absage. „Atomenergie wird nicht umweltfreundlicher, wenn sie ein grünes Mäntelchen bekommt“, sagt selbst der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Landjugend. „Wir brauchen Energieträger, die nachwachsen, Treibhausgase vermeiden und das Klima schützen“.

„Nicht wissenschaftlich und auch nicht produktiv“

Sebastian Rink von der Frankfurt School of Finance nennt den Taxonomie-Entwurf „nicht wissenschaftlich und auch nicht produktiv, was die weitere Entwicklung der Taxonomie angeht“. Rink arbeitete dem Beratergremium der EU-Kommission zu, in dem 57 Interessenvertreter*innen von Banken, Kirchen, Umweltverbänden, Energiekonzernen und Universitäten die Maßstäbe für künftige „grüne Investments“ entwickelten. Der jetzige Entwurf greife die Vorschläge der Wissenschaftler kaum auf, so Rink. Andreas Hoepner, Professor für nachhaltige Finanzen an der Universität Dublin, spricht sogar vom „größten Greenwashing aller Zeiten“. „Das ist so, als würde man Pommes frites als Salat bezeichnen“, beschreibt er den vorliegenden Entwurf.

Zu Wort melden sich auch vier ehemalige Mitarbeiter der Atom-Aufsicht, die sich selbst als „Schlüsselexperten“ bezeichnen, die „an der Front der Nuklearenergie“ tätig waren: Greg Jaczko (USA, bis 2012 Chef der Atomaufsichtsbehörde NRC), Wolfgang Renneberg (zwischen 1998 und 2009 Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit, Strahlenschutz und Entsorgung im deutschen Umweltministerium), Bernard Laponche (war im französischen Kommissariat für Atomenergie tätig) und Paul Dorfman (Komitee zur Untersuchung von Atomkraft-Risiken der britischen Regierung). „Die zentrale Botschaft, die immer wieder wiederholt wird, die neue Generation der Atomkraftwerke sei sauber, sicher, smart und billig, ist Fiktion,“ heißt es in deren Statement. „Die Realität ist, dass Atomkraft weder sauber, noch sicher oder smart, sondern eine hochkomplexe Technologie ist, mit dem Potenzial, erheblich Schaden anzurichten. Nuklearenergie ist nicht billig, sondern extrem teuer.“

Die geplante Einstufung sei „aus fachlicher Sicht nicht haltbar“, unterstreicht auch das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in einer Analyse. Die EU habe zentrale Kriterien „viel zu wenig beachtet“. BASE-Chef Wolfram König bezeichnet Atomenergie als „Hochrisikotechnologie“, die auch die „Gefahr des Missbrauchs von radioaktivem Material für terroristische und kriegerische Zwecke“ berge. Für schwere Unfälle mit erheblichem Austritt von Radioaktivität würden die Haftungssummen nicht ausreichen. In der Klimabilanz werde lediglich der Betrieb der Atomkraftwerke betrachtet, nicht aber etwa Abriss oder Urangewinnung, die durchaus zum Ausstoß von Treibhausgasen führten.

Die Haltung der Bundesregierung zur Atomenergie ist „unverändert ablehnend“. Während Bundeskanzler Scholz vor vier Wochen noch die Position vertrat, die Debatte um die Taxonomie sei „überbewertet“, wurde er jetzt deutlich: „Die Nutzung der Kernenergie ist nicht nachhaltig und sie ist auch wirtschaftlich nicht sinnvoll“, so Scholz Mitte der Woche im Bundestag. Es sei ein „teurer Weg“, bei dem viele Dinge ungeklärt seien, etwa die Entsorgungs- und unverändert die Sicherheitsfrage. Auch die Grünen und die Linken lehnen Atomenergie grundsätzlich ab. Selbst die FDP sieht in Atomenergie für Deutschland „keine Option“ mehr.

Verstoß gegen das Grundgesetz

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Grundgesetz Art. 20a

Konkreter wird die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die ein Rechtsgutachten zur Taxonomie vorgelegt hat: Die Aufnahme von Atomenergie und Gas in die EU-Taxonomie wäre nach Grundgesetz Art. 20a rechtswidrig. Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht geben der Bundesregierung einen umfassenden Handlungsrahmen vor, der auch für die Mitgestaltung von Unionsrecht gelte und eine Ablehnung der beabsichtigten Regelungen gebietet, so die DUH. Im Zweifel müsse Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Luxemburg und Österreich haben bereits angekündigt, gegen die Taxonomie vor Gericht zu ziehen. Die Bundesregierung will den Klageweg prüfen...

Hoffentlich nicht Allianz versichert

„Die Taxonomie wurde politisch gekapert“, heißt es von der Dekabank, der Fondsgesellschaft der Sparkassen. „Atomkraft würde als grünes Wertpapier gelten“, warnt ein Deka-Sprecher. Damit wäre die Liquidität der Atomfirmen am Kapitalmarkt sichergestellt. In einem offenen Brief schrieb die Organisation Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG), die 200 Mitglieder vertritt, schon im August, dass diese Taxonomie „Probleme wie die Entsorgung des Atommülls auf künftige Generationen ablädt“. Atomenergie als nachhaltig zu bezeichnen sei „ein No-Go“.

„No, we do not exclude this.“ heißt es hingegen von der Allianz Group auf eine Anfrage des Verlag Versicherungswirtschaft an diverse Investmentunternehmen. Auch die Generali-Group habe „nach Insiderinformationen“ noch keine klare Richtlinie in der Atomfrage festgelegt. Zu unsicher sei „die Gemengelage aus Investmentinteressen, Klimazielen und politischen Vorgaben in jedem einzelnen EU-Land“.

Die Folgen einer völlig verfehlten Atompolitik: Stromausfall

Bekanntlich ist es vor allem Frankreich, das mit dem weltweit zweithöchsten Anteil an Atomstrom im Energiemix und einer überalterten Reaktorflotte ein starkes Interesse an einer „nachhaltigen“ Klassifizierung der Atomenergie hat. Der Status Quo: Der Netzbetreiber warnt vor Stromengpässen für Industrie & Privathaushalte, weil aktuell zehn von 56 AKW aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Verfügung stehen. In einer bestimmten Reaktorgenerationen liegt offenbar mit Risse an einem Sicherheitskühlsystem ein Serienfehler vor, nun ist neben den AKW Civaux und Chooz auch Penly vom Netz. Der einzige AKW-Neubau in Flamanville wird noch teurer und später fertig als bislang geplant – die Gesamtkosten liegen nun bei 19 Milliarden, versprochenen waren einmal 3,4. Frankreich hat mit seinen vielen Meilern 1,6 Millionen Kubikmeter Atommüll angehäuft. Eine „Lösung“ dafür ist nicht in Sicht. Und die von Präsident Macron angekündigten "Klimaschutz-Mini-Meiler" gibt es nirgends auf der Welt.

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EU-Taxonomie analysiert: Yellow Deal statt Klimaschutz
5.1.2022 - Nach langem Streit will die EU Atomkraft und Gas zukünftig als ‚grün‘ klassifizieren. Damit wird der angestrebte ‚Green Deal‘ durch einen dreckigen ‚Yellow Deal‘ ersetzt – zu Lasten von Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Eine Analyse.

FAQ: Fragen und Antworten zum Atomkraft- und Gas-Streit im Zusammenhang mit der EU-Taxonomie findest Du unter ausgestrahlt.de/eu-taxonomie

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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