Der rot-grün-gelbe Koalitionsvertrag liefert so gut wie keine Antworten auf die wichtigen atompolitischen Fragen der kommenden Jahre – und wenn, dann enttäuschende bis skandalöse. Ein Überblick.
Atomausstieg
„Am deutschen Atomausstieg halten wir fest“ steht im Koalitionsvertrag von Rot-Grün-Gelb. Soll heißen: Eine Rückkehr zur Atomkraft oder Laufzeitverlängerungen für AKW wird es mit dieser Bundesregierung nicht geben. Das ist nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit: Alle Bundestagsfraktionen – mit Ausnahme der AfD – haben sich schließlich in jüngster Vergangenheit wiederholt zu dem 2011 von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen gemeinsam gefassten Beschluss bekannt, alle deutschen AKW bis Ende 2022 abzuschalten.
Ein „Atomausstieg“ ist das allerdings noch nicht. Die Urananreicherungsanlage in Gronau (NRW) ebenso wie die Brennelementefabrik in Lingen (Niedersachsen) verfügen weiterhin über unbefristete Betriebsgenehmigungen. Deutschland versorgt AKW in aller Welt mit Brennstoff, darunter auch Kraftwerke, die die Regierungsparteien aufgrund eklatanter sicherheitstechnischer Mängel selbst als „Risikoreaktoren“ einstufen. Im Koalitionsvertrag verkündet die Ampel-Regierung, sie werde sich „für eine Abschaltung der grenznahen Risikoreaktoren einsetzen“. Über die Atomfabriken in Gronau und Lingen verliert sie jedoch kein einziges Wort. Und dies, obwohl zwei vom Bundesumweltministerium beauftragte Gutachten aus dem Jahr 2018 belegen, dass die Schließung der beiden Atomanlagen rechtssicher möglich wäre.
Ein Positionspapier des Umweltministeriums unter SPD-Frau Svenja Schulze vom März 2021 nennt zwölf Leitlinien zur Vollendung des Atomausstiegs, die Schließung der Atomfabriken steht dabei an oberster Stelle. Die Bundestagsfraktion der Grünen hat im Februar 2018 einen Gesetzentwurf zur Schließung beider Anlagen zum 31.12.2022 eingereicht. Ein Jahr vor dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke in Deutschland hätte dieses bislang sowohl von den Grünen als auch aus den Reihen der SPD als Ziel formulierte Vorhaben ohne Wenn und Aber auf der Agenda bzw. im Koalitionsvertrag stehen müssen.
Dass Deutschland weiterhin Forschung zu neuen Reaktortypen und zu AKW-Brennstoffen betreibt und diese mit öffentlichen Mitteln finanziert, scheint für die Ampel-Koalitionäre ebenfalls nicht im Widerspruch zum angeblichen Atomausstieg zu stehen. Kein Wort etwa zu den Forschungsstätten am Forschungszentrum Jülich, am Institut für Transurane (ITU) auf dem KIT-Campus bei Karlsruhe oder auch an der RWTH Aachen. Kein Wort auch dazu, dass der Forschungsreaktor FRM II in Garching nach wie vor – und entgegen seiner Betriebsgenehmigung – mit hoch angereichertem, atomwaffenfähigem Uran (HEU) betrieben wird.
All diese Unternehmungen unterlaufen den Atomausstieg, sie fördern den Weiterbetrieb von Atomanlagen in aller Welt und gefährden die Sicherheit im In- und Ausland – in Zukunft mit Unterstützung der Ampel-Regierung.
Internationales
Deutschland hat es bislang versäumt, seine starke Stimme zu nutzen, um im Bündnis mit anderen atomkritischen EU-Staaten eine Reformierung des atomfreundlichen Euratom-Vertrags zu erwirken und in eine europäische Atomausstiegsvereinbarung zu überführen. Über den Euratom-Vertrag fließen Milliarden Euro in die Förderung der Atomkraft. Die Ampel-Koalition beabsichtigt offenbar nicht, daran etwas zu ändern – im Koalitionsvertrag findet sich zu Euratom kein Wort.
Tragisch ist dies auch, weil hier für eine gefährliche und nicht zukunftsfähige Technologie große Summen verschwendet werden, die für den Klimaschutz und den dazu erforderlichen gemeinschaftlichen Umbau des europäischen Energiesystems dringend gebraucht werden.
Stattdessen versucht die Atomlobby mit massivem Druck auch der französischen Regierung obendrein noch von Maßnahmen und Fördertöpfen zu profitieren, die die EU im Rahmen des „Green Deals“ für den Klimaschutz einrichtet. Dazu hätte es ein klares Veto der neuen Bundesregierung im Koalitionsvertrag gebraucht – doch sie schweigt.
Auch beim Thema Wasserstoff aus Atomkraft bleibt die Koalition zahnlos. Zwar will sie sich für eine europaweit einheitliche Zertifizierung von Wasserstoff einsetzen, sie geht aber nicht so weit, Importe von nuklear erzeugtem Wasserstoff eindeutig abzulehnen.
Die Koalition setze sich „auf internationaler und europäischer Ebene dafür ein, dass die Atomenergie für die von ihr verursachten Kosten selbst aufkommt“, heißt es wohlklingend im Atom-Passus des Ampel-Vertrags. Wie sie diesen Satz mit Leben füllen wollen, während sie zugleich nicht verhindern, dass weiterhin Subventionen und Fördergelder in Milliardenhöhe in Atomkraft fließen, lassen die Koalitionsparteien offen.
Rechtliches
Im Juni 2021 hat der Bundestag unter anderem gegen die Stimmen von Grünen und FDP die 17. Atomgesetz-Novelle verabschiedet. Das Gesetz stellt Entscheidungen der Genehmigungsbehörden zum Schutz gegen „Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter“ (SEWD) unter „Funktionsvorbehalt“. Gerichte dürfen demnach nicht mehr überprüfen und darüber urteilen, ob Atomanlagen oder Atommüll-Transporte ausreichend gegen mögliche Terrorgefahren geschützt sind. Der Funktionsvorbehalt schränkt Klagerechte von Anwohner*innen und Umweltverbänden ein und schwächt die Gewaltenteilung. Trotz der Gegenstimmen von Grünen und FDP bei der Verabschiedung des Gesetzes und obwohl selbst die SPD im Umweltausschuss mit der Regelung haderte, setzt die Ampel-Koalition sich nicht das Ziel, eine tragbare Neuregelung des schwierigen Sachverhalts zu suchen.
Atommüll-Lagerung: hochradioaktive Abfälle
„Die Standortsuche für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle soll entsprechend der gesetzlich festgelegten Prinzipien wissenschaftsbasiert, partizipativ, transparent, sich selbst hinterfragend und lernend fortgesetzt werden.“ Diese Formulierung aus dem Koalitionsvertrag bedeutet nicht mehr als ein „Weiter so!“ beim Standortauswahlverfahren – obwohl dieses bekanntermaßen diese Prinzipien gar nicht erfüllt. Damit ignoriert die Ampel-Koalition die unter anderem von Umwelt-Organisationen und Initiativen geäußerte massive Kritik.
Auch beim gesetzlich festgelegten Zeitziel für die Standortauswahl ist die Ampel offenbar nicht zu Nachbesserungen bereit. Dabei ist es quasi ausgeschlossen, dass die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) bis 2031 den finalen Standort für das Atommüll-Lager benennen können wird. Die neue Regierung hätte hier ein wichtiges Zeichen setzen können, um den Zeitdruck rauszunehmen und klarzustellen, dass Sorgfalt vor Schnelligkeit geht.
Rot-Grün-Gelb hätte ebenfalls Stellung zu der Situation an den sechzehn Zwischenlager-Standorten nehmen müssen. Zwischen 2034 und 2046 laufen alle bestehenden Genehmigungen aus. Die Einlagerung in ein geologisches Tiefenlager wird aber selbst nach den optimistischsten Rechnungen nicht vor 2090 beendet sein. Es braucht daher unter Beteiligung der Betroffenen unbedingt ein neues Konzept für die Zwischenlagerung hochradioaktiver Abfälle bis zur dauerhaften Lagerung. Dieses sicherheitsrelevante Thema erlaubt keinen Aufschub; dass es im Koalitionsvertrag nicht mal Erwähnung findet, ist mindestens fahrlässig.
Atommüll-Lagerung: schwach- und mittelradioaktive Abfälle
Zur Lagerung der schwach- und mittelradioaktiven Abfälle heißt es im Ampelvertrag:
„Genehmigte Endlager müssen zügig fertiggestellt und in Betrieb genommen werden. Hierzu gehören auch die Standortauswahl und die Errichtung des notwendigen Logistikzentrums.“
Der erste Satz – mit dem falschen Plural! – ist ein eindeutiges Bekenntnis zur Inbetriebnahme von Schacht Konrad, dem einzigen genehmigten „Endlager“ in Deutschland – und eine Kampfansage an das große Bündnis von Umwelt-Organisationen, Anti-Atom-Initiativen, Gewerkschaften und anderen, die für eine Rücknahme bzw. Widerruf der Genehmigung von Schacht Konrad kämpfen. Denn das ehemalige Bergwerk wäre nach heutigem Stand von Wissenschaft und Technik niemals genehmigungsfähig und genügt heutigen Sicherheitsanforderungen nicht. Doch statt dieses Projekt endlich zu begraben, halten Rot, Grün und Gelb explizit daran fest. Das macht sie unglaubwürdig auch für alle weiteren Atommüllfragen.
Ob der Begriff „Standortauswahl“ ein zügiges Genehmigungsverfahren des geplanten „Logistikzentrums“ in Würgassen zur Einlagerung der Abfälle in Schacht Konrad meint, oder ob die Koalition nach der herben Kritik an der Verfahrensweise nun doch zumindest ein ordentliches Auswahlverfahren plant, ist vorerst unklar – die ungenaue Formulierung jedenfalls lässt beide Interpretationen zu.
Weitere Leerstellen
Mit einer Änderung des Atomgesetzes könnte die Ampel-Koalition die Verschiebung von abgereichertem Uran aus Gronau nach Russland und anderswo endgültig stoppen. Im Ampelvertrag findet jedoch auch dieser Missstand keine Erwähnung.
Eine weitere Baustelle, die zunehmend für Proteste und teils massive Konflikte zwischen Landesregierungen und Kommunen sorgt, ist der AKW-Abriss und die Freigabe von radioaktiven Abfällen an konventionelle Deponien, Verbrennungsanlagen und Recycling-Betriebe. Obwohl die gesetzliche Regelung der Freigabe-Bestimmungen in ihren Zuständigkeitsbereich fällt, nimmt sich die Ampel-Koalition dem Koalitionsvertrag nach zu urteilen ein Beispiel an ihrer Vorgängerin – und schweigt.
weiterlesen:
- Merkels Atom-Wendung
21.10.2021: Von der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung im Pakt mit den Atomkonzernen zum Atomausstieg Ende 2022: Der Super-GAU von Fukushima stellte Merkels Atompolitik auf den Kopf. Die Energiewende aber torpedierte die Union. - Die Wasserstoff-Strategie Frankreichs – Jungbrunnen der Atomindustrie?
07.10.2021: In der ersten Hälfte des Jahres 2022 wird die EU-Ratspräsidentschaft von Frankreich geleitet. Es ist damit zu rechnen, dass die Präsidentschaft dazu genutzt werden soll, den Green Deal, die EU-Taxonomie und das „Fit for 55“-Paket atomindustriefreundlich auszugestalten. Gleichzeitig laufen deutsch-französische Wasserstoff-Projekte von besonderer europäischer Wichtigkeit an, die sogenannten Important Projects of Common European Interest (IPCEI). Ebenso stehen in Frankreich strategische Weichenstellungen hinsichtlich neuer AKW und der Finanzierung von Laufzeitverlängerung an. Grund genug, sich die französische Wasserstoff-Strategie einmal genauer anzuschauen. - Atom-Schutt: verteilen, verdünnen, vermischen
18.08.2021: Der Umgang mit schwach radioaktivem Material aus dem Reaktorumfeld, das beim Abriss der AKW anfällt, sorgt bundesweit für wachsenden Widerstand. Die Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) sieht vor, Atommüll mit niedrigem Aktivitätsniveau aus der atomrechtlichen Überwachung zu entlassen. Die sogenannten „freigegebenen“ Abfälle gelten dann trotz messbarer Radioaktivität rechtlich nicht mehr als radioaktiv. Sie werden wie normaler Industriemüll behandelt: recycelt, verbrannt oder auf Deponien verscharrt. - 17. Atomgesetz-Novelle - Klagerechte eingeschränkt, Gewaltenteilung geschwächt
16.08.2021: Der Staat hat nicht per se recht: Die 17. Atomgesetz-Novelle muss zurückgenommen werden, weil sie Klagerechte einschränkt und die Gewaltenteilung schwächt. - Alle AKW abschalten
27.07.2021: Die noch laufenden Atomkraftwerke müssen sofort abgeschaltet werden, nicht erst Ende 2022. Einen Sicherheitsrabatt zum Ende der Laufzeit darf es nicht geben. - 21 atompolitische Forderungen an die nächste Bundesregierung