Strommarkt-Experte Philipp Litz über Versorgungssicherheit beim Umstieg auf 100 Prozent Erneuerbare Energien, die Kosten einer verhinderten Energiewende und die Bedeutung des CO2-Preises für den künftigen Strommarkt.
Herr Litz, Ende des Jahres gehen drei AKW zugleich vom Netz, Ende 2022 folgen die restlichen drei. Die Gefahr eines Atomunfalls reduziert das drastisch. Gerät nun stattdessen die Versorgungssicherheit in Gefahr?
Nein, denn zum einen haben wir ausreichend gesicherte Kraftwerkskapazitäten selbst für mögliche Dunkelflauten, in denen weder Solar- noch Windkraftanlagen nennenswert Strom erzeugen. Zum anderen ist das Stromnetz in Deutschland Teil des europäischen Verbundnetzes und kann Strom mit den Nachbarländern austauschen. Auch die Monitoringberichte von Bundeswirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur kommen zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit auch nach dem Atomausstieg voll gewährleistet ist.
Wie wird sich das Abschalten der AKW im Strommarkt bemerkbar machen?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Etwa, wie stark eine neue Bundesregierung jetzt den Ausbau der Erneuerbaren Energien vorantreibt. Oder wie das Wetter wird, denn das beeinflusst Solar- und Windstromertrag und den Einsatz von Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, die zugleich Strom und Fernwärme erzeugen. Auch die Entwicklung der Brennstoff- und CO2-Preise spielt eine wichtige Rolle, denn die bestimmen, ob Gas- oder Kohlekraftwerke hochfahren, wenn nicht genügend Öko-Strom zur Verfügung steht.
Das klingt ein bisschen, als ob der wegfallende Atomstrom einfach durch fossilen Strom ersetzt wird.
Kurzfristig werden die CO2-Emissionen vermutlich stagnieren oder sogar leicht steigen. Daran ist aber nicht der Atomausstieg schuld, sondern, dass Deutschland in den vergangenen Jahren beim Ausbau der Erneuerbaren Energien, insbesondere beim Ausbau der Windenergie, hinter seinen Zielen zurückgeblieben ist.
Um die Klimaziele zu erreichen, muss auch die fossile Stromerzeugung so schnell wie möglich abnehmen. Wie kommen wir dahin?
Die nächste Bundesregierung, egal wie sie sich zusammensetzt, muss in den ersten 100 Tagen ein Klimaschutz-Sofortprogramm auf den Weg bringen, das einen zügigen Ausbau der Erneuerbaren Energien ins Zentrum stellt: Bei Windkraftanlagen an Land etwa müssen die Mindest-Ausschreibemengen auf 5–6 Gigawatt pro Jahr erhöht werden – im letzten Jahr waren es nur gut 3 Gigawatt. Zugleich müssen dafür die nötigen Flächen verfügbar gemacht werden, denn insgesamt brauchen wir zwei Prozent der Landesfläche für den Windkraftausbau. Die neue Bundesregierung sollte auch dafür sorgen, dass die Kommunen finanziell mehr von den Anlagen profitieren. Und sie muss die Genehmigungsverfahren straffen: Die dauern für Windräder mitunter drei bis fünf Jahre, fast so lang wie für ein Kohlekraftwerk.
Ist Ärger mit dem Naturschutz dann nicht vorprogrammiert?
Es geht nicht darum, den Naturschutz auszuhebeln. Was es braucht, sind klare, einheitliche Regeln, damit die Verfahren einfach und schnell durchzuführen sind.
Wie sieht es mit der Solarenergie aus?
Zuletzt hatten wir wieder 5−6 Gigawatt Zubau pro Jahr. Auch das ist aber noch weit entfernt von den 10–15 Gigawatt Solarstrom-Kapazität pro Jahr, die wir brauchen, um das Klimaziel von 65 Prozent weniger CO2 bis 2030 zu erreichen. Deshalb muss die Bundesregierung die Ausschreibungsmengen für Solarenergie verdreifachen und die Vergütungssätze für Kleinanlagen erhöhen.
Welche Rolle spielen Erleichterungen bei der Eigenstromversorgung, wie sie auch die EU einfordert?
Eigenstromerzeugung ist ein wesentlicher Baustein für die Energiewende – nicht nur wegen der damit erzeugten Strommengen, sondern weil sie, genau wie Bürgerenergie-Projekte, eine breite Beteiligung der Bevölkerung an der Energiewende ermöglicht. Zugleich gibt es ein substanzielles Potenzial an ungenutzten Dachflächen, auf denen Solaranlagen installiert werden können. Um klimaneutral zu werden, brauchen wir aber beides: Bürgerenergie und Erneuerbare Energie im industriellen Maßstab.
Versorgungssicherheit heißt auch, dass Stromangebot und ‑nachfrage jederzeit in Einklang sein müssen. Wie wird das bei einem immer größeren Anteil Erneuerbarer funktionieren?
Ein kleiner Prozentsatz der Erneuerbaren Energien, Wasser- und Biomassekraftwerke etwa, sind steuerbar. Vollkommen unterschätzt wird bisher die Möglichkeit, die Nachfrage zu flexibilisieren und so kurzfristige Schwankungen auszugleichen. Dies gewinnt gerade mit dem Laden von Elektrofahrzeugen an Bedeutung. Zur Absicherung, schon allein wegen möglicher Dunkelflauten, brauchen wir trotzdem weiterhin regelbare Kraftwerke.
Atom- und Kohlekraftwerke so schnell wie möglich abschalten, aber zugleich Kraftwerkskapazitäten zubauen – ist das nicht widersinnig?
Jedes abgeschaltete Atom- und Kohlekraftwerk macht Platz am Markt – und schafft Anreize für die dringend nötigen Investitionen in Erneuerbare Energien. Dennoch brauchen wir auch künftig noch jede Menge wetter-unabhängig regelbare Kraftwerke, die sich entweder regulär am Strommarkt als Backup-Kraftwerke oder im Rahmen einer Reserve-kapazitätsregelung finanzieren. Das sind etwa besonders gut regelbare Gaskraftwerke …
… die mit welchem Brennstoff laufen?
Derzeit noch mit Erdgas. Im Zuge der Klimaneutralität müssen sie aber sukzessive umgerüstet werden auf grünen, aus Erneuerbarer Energie erzeugten Wasserstoff. Deshalb sollten neue Anlagen, etwa Gasturbinen oder Gasmotoren, auch gleich für die Beimischung von oder gar den Betrieb mit Wasserstoff ausgelegt werden. Zur zusätzlichen Absicherung können allerdings auch abgeschaltete, also aus dem Markt genommene fossile Kraftwerke eine Reservefunktion übernehmen: Wenn sie gar nicht oder nur wenige Tage im Jahr laufen, fallen auch ihre CO2-Emissionen kaum ins Gewicht.
Solche Reservekraftwerkskapazitäten betriebsbereit zu halten oder gar neu zu bauen, muss aber auch bezahlt werden.
Unterm Strich entstehen dadurch keine großen Kosten. Es muss allerdings auf politischer Ebene geklärt werden, wessen Aufgabe es ist, letztlich Versorgungssicherheit zu gewährleisten und wer welche Kosten dafür übernimmt.
Wie verhindern wir, dass der für die Reservekraftwerke künftig benötigte Wasserstoff mit Atomstrom etwa aus Frankreich erzeugt wird?
Zum einen, indem wir ihn zum Teil selbst mit Erneuerbaren Energien produzieren. Zum anderen mit einem guten Zertifizierungssystem, das sicherstellt, dass der Wasserstoff, den wir importieren, auch nachhaltig produziert wird.
An der Börse ist der Strompreis in letzter Zeit kräftig gestiegen, auf ein neues Rekordhoch sogar. Ist das der Preis der Energiewende?
Das ist vielmehr der Preis, den wir für eine zu zögerliche Energiewende zahlen! Denn die Erneuerbaren Energien machen uns unabhängiger von Preisschwankungen fossiler Brennstoffe und tragen aktuell schon zu einer Stabilisierung des Strompreises bei. Der Großteil des aktuellen Preisanstiegs geht auf höhere Erdgaspreise zurück, wofür verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: eine besonders hohe Nachfrage aus Asien, wo durch die Hitze viele Klimaanlagen laufen, der kalte letzte Winter bei uns, der die Gas-Speicher geleert hat, die Lieferprobleme von Gazprom. All das sollte ein Anreiz sein, die Erneuerbaren Energien schneller auszubauen und die Energiewende voranzutreiben.
Angenommen, es klappt mit dem kräftigen Ausbau der Erneuerbaren: Ist dann zu erwarten, dass die Börsenstrompreise wieder sinken?
Die aktuellen Börsenstrompreise sind eine Folge von kurzfristigen Engpässen, die sich auch wieder auflösen werden, durch höhere Erdgas-Förderquoten oder weil Erdgas durch Erneuerbare Energien ersetzt wird. Längerfristig ist neben dem Ausbau der Erneuerbaren Energien vor allem der CO2-Preis entscheidend: Ab etwa 100 Euro pro Tonne CO2 ist es für die Marktakteure günstiger, auf Erneuerbare Energien statt auf Kohle und Gas zu setzen.
Als Signal an den Strommarkt müsste die Politik demnach klarmachen, dass CO2-Emissionen bald mindestens 100 Euro pro Tonne kosten werden?
Die Pläne der EU für den europäischen Emissionshandel zeigen auch bereits in diese Richtung. Das ist ein doppelter Gewinn für die Energiewende und den Klimaschutz, denn es setzt einerseits einen Anreiz für den Umstieg auf klimafreundliche Technologien. Und andererseits kann das Geld, das über den Emissionshandel eingenommen wird, für den nötigen Umbau des Stromsystems und für einen sozialen Ausgleich der Mehrkosten genutzt werden. Um die Klimaziele, die sich die EU und Deutschland gesetzt haben, zu erreichen, braucht es aber einen breiten Instrumenten-Mix, der neben CO2-Preisen auch Ordnungsrecht, steuerliche Anreize und Fördermaßnahmen enthält.
Interview: Armin Simon
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