Von der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung im Pakt mit den Atomkonzernen zum Atomausstieg Ende 2022: Der Super-GAU von Fukushima stellte Merkels Atompolitik auf den Kopf. Die Energiewende aber torpedierte die Union.
Als Angela Merkel 2005 ins Kanzleramt einzieht, ist die promovierte Physikerin bekennende Atomkraftbefürworterin und fest entschlossen, die von Rot-Grün 2000 beschlossene Einschränkung der AKW-Laufzeiten über kurz oder lang zu kippen. Doch in der Großen Koalition mit der SPD ist ein Zurück zur Atomkraft undenkbar. Merkels Chance auf eine andere Atompolitik kommt erst mit der zweiten Amtszeit.
Wahljahr '09 – Merkels Atombündnis
Es wäre wirklich „jammerschade“, wenn Deutschland aus der Atomkraft aussteigen würde, moniert die Kanzlerin in ihrer Rede beim „Tag der Deutschen Industrie“ im Sommer des Wahljahres 2009: „Wenn wir den Ausstieg aus der Kernenergie wieder rückgängig machen und nicht zulassen, dass wir bei jedem Kohlekraftwerk unsinnige Konflikte bekommen, und gleichzeitig in Energieeffizienz und in erneuerbare Energien investieren, dann haben wir auch als Energiestandort eine Chance.“
Im Wahlprogramm, das wenige Tage später erscheint, erklären CDU und CSU schließlich verhalten, dass sie Laufzeitverlängerungen für die angeblich „sicheren deutschen Kraftwerke“ anstreben. Den Bau neuer AKW schließen sie aus – wohlwissend, dass dies zu teuer und in Deutschland ohnehin nicht durchsetzbar wäre. Ein pro-nuklearer Bündnispartner steht mit der FDP ebenfalls bereit.
Konzerninteressen statt Klimaschutz
Wenn Angela Merkel in jenen Jahren von Atomkraft als „Brückentechnologie“ spricht, ist darin keineswegs ein Ausstieg aus fossilen Brennstoffen inbegriffen. Kohle und Erdgas haben lange einen festen Platz im Merkel’schen Energiemix. Sie strebt keineswegs einen Systemwechsel im Sinne einer dezentralen, demokratisierten Stromerzeugung auf Basis von regenerativen Energiequellen an. Merkels Aussagen zum Klimaschutz zielen vor allem auf fragwürdige technische Lösungen ab. Die ehemalige Umweltministerin träumt von neuen, „sauberen“ und effizienteren Kohle- und Gaskraftwerken, von Emissionsfiltern und CO2-Speichern – nicht von einer nachhaltigen, zukunfts- und vor allem generationengerechten Umweltpolitik. Der Ausbau von Wind- und Solarkraft ist für Merkels CDU nur ein ziemlich kleines Stück vom Kuchen. Ihre Energiepolitik ist zu keinem Zeitpunkt transformativ, sondern stets darauf ausgerichtet, das bestehende fossil-atomare System so lange wie möglich zu erhalten.
Denn schon damals ist klar, dass die nicht bedarfsgerecht steuerbaren Atomkraftwerke einem zügigen und konsequenten Ausbau von Windkraft und Solarstrom im Weg stehen und eine echte Energiewende blockieren. Dass die atompolitische Rolle rückwärts, die Merkels Union 2009 forciert, die aufstrebende Windenergie- und Solarbranche hart treffen würde, nimmt die Kanzlerin zugunsten der Atom- und Kohlekonzerne in Kauf.
Proteste gegen Atomkraft
Anti-Atom-Bewegung wiederbelebt
Es lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Union und FDP nach der Wahl im Herbst 2009 nicht wegen, sondern trotz ihrer atompolitischen Pläne die Mehrheit im Bundestag bilden. Denn in Umfragen lehnt die Bevölkerung Laufzeitverlängerungen für die deutschen Atommeiler auch damals schon mehrheitlich ab. Selbst die Anhänger*innen der Union sprechen sich dagegen aus. Und nicht nur die Umfragen geben ein deutliches Stimmungsbild wieder: Nach dem Wahlsieg der Atom-Koalition wächst der Widerstand in Form von Groß-Demonstrationen und Menschenketten auch auf der Straße.
Die Kanzlerin hat die atomkritische Stimmung in der Bevölkerung und den gesellschaftlichen Konflikt, der durch die rot-grüne Atompolitik weitgehend befriedet war, gewaltig unterschätzt. Entsprechend beeindruckt zeigt sie sich, als plötzlich das ganze Land anti-atom-bewegt zu sein scheint. Mit Blick auf die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 zögert Merkel zunächst mit der Umsetzung ihres Atomprogramms. Erst rund ein Jahr nach der Wahl, im Oktober 2010, löst die schwarz-gelbe Koalition ihr Versprechen an die Atomkonzerne schließlich ein und verlängert die Laufzeiten der 17 deutschen Atomkraftwerke um bis zu 15 Jahre. Die Meiler sollen somit allen sicherheitstechnischen Risiken zum Trotz insgesamt 40 bis 50 Jahre laufen – ein Goldregen für Vattenfall, Eon, RWE und EnBW.
Von der Atomkanzlerin zur Ausstiegskanzlerin
Wenige Monate später, am 11. März 2011, trifft ein schweres Seebeben die Ostküste Japans und löst eine riesige Flutwelle aus, die viele Menschen das Leben kostet. Zugleich werden mehrere AKW durch Beben und Flut schwer beschädigt. In drei Reaktoren des AKW Fukushima Daiichi kommt es daraufhin zur Kernschmelze – eine Atomkatastrophe, die bis heute andauert. Nur Glück im Unglück verhindert, dass Japan bis tief ins Landesinnere schwer verseucht wird; der Wind treibt die radioaktive Wolke stattdessen auf den Pazifik hinaus.
Das Reaktorunglück von Fukushima wird für Angela Merkel zur Zäsur. Wenn in einem Hightech-Land wie Japan mit höchsten Sicherheitsstandards ein solcher Unfall passiere, könne „auch Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, erklärt die Kanzlerin und kündigt ein Moratorium an: Alle 17 Atomkraftwerke sollen – zumindest auf dem Papier – sicherheitstechnisch überprüft werden, die acht technisch ältesten werden, zunächst als „Moratorium“ befristet, sofort vom Netz genommen.
Deutschlandweit gehen Hunderttausende auf die Straßen und fordern den sofortigen Atomausstieg. Zwei Wochen nach dem Super-GAU in Fukushima verliert die CDU die Landtagswahl in Baden-Württemberg – fortan regieren die Grünen im Ländle. Die anhaltenden Proteste und das Wahlergebnis setzen die Kanzlerin unter Druck. Im Juni nimmt der Bundestag die gerade erst beschlossene Laufzeitverlängerung zurück und beschließt, die acht vom Netz genommenen Meiler endgültig stillzulegen; die restlichen neun erhalten feste Abschalttermine bis Ende 2022, zu denen sie spätestens vom Netz gehen müssen. Das ist zwar alles andere als ein zügiger Atomausstieg, für Union und FDP jedoch eine 180-Grad-Wendung.
Angela Merkel hält sich in den folgenden Jahren weitgehend aus atompolitischen Fragen heraus und rettet sich und ihre Partei mit Kommissionen über schwierige – und nach wie vor ungelöste – Fragen wie dem Atommüll-Problem hinweg. Der Atom-Konflikt hat Spuren hinterlassen.
Energiewende abgebremst
Zehn Jahre nach Fukushima hat der Ausbau der Erneuerbaren den Wegfall der Atomkraft längst überkompensiert. Der Anteil regenerativer Energiequellen im deutschen Strommix liegt aktuell bei etwa 42 Prozent – 2010 waren es 17 Prozent. Der Zuwachs bei den Erneuerbaren ist allerdings nicht der deutschen Energiepolitik der vergangenen 16 Jahre zu verdanken. Im Gegenteil: Die Regierung Merkel hat alles darangesetzt, den Solar- und Windkraft-Boom nach Fukushima regelrecht abzuwürgen und den schnellen Ausbau der Erneuerbaren nach Kräften zu blockieren. Bis heute fehlen Konzepte und politischer Wille zu einem echten Ausstieg aus dem fossil-atomaren Energiesystem.
Als sich 2018 etwa im Rahmen einer atomrechtlichen Änderung die Gelegenheit bietet, die Übertragung von Reststrommengen bereits abgeschalteter AKW auf die drei Atomkraftwerke im windreichen Norden zu untersagen, schlägt die Bundesregierung diese Option aus. Stattdessen löst sie die Konkurrenzsituation zwischen Atomkraft und Windenergie im „verstopften“ Stromnetz, indem sie Windanlagen teuer abregelt und deren Ausbau stoppt.
Zurück zum atomaren Markenkern?
„Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert“, erklärt Angela Merkel vor dem Parlament und bleibt bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft dabei. Für ihre Partei gilt das indes nur eingeschränkt. Zwar halten sich die Atom-Fans in der Union nach Merkels Kehrtwende zunächst weitgehend zurück. Je näher jedoch das Ende ihrer Kanzlerschaft rückt, desto häufiger kommen sie wieder aus der Deckung.
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