Kalte und warme Hintern

21.10.2021 | Armin Simon
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Sitzen Atomkraft-Fans bald im Dunkeln? Und warum sorgen sich ausgerechnet die größten Kohlefans und Energiewende-Blockierer plötzlich angeblich ums Klima? Eine Orientierung.

Axt und Keule – wenn es ums Durchsetzen ihrer Reaktoren ging, waren die Atomkonzerne nicht gerade zimperlich mit ihren Propaganda-Mitteln. „Atomkraftgegner überwintern bei Dunkelheit mit kaltem Hintern“, reimten sie in den 1970ern des vorigen Jahrhunderts, die Aufkleber mit dem Spruch illustrierte eine krakelige Zeichnung der oben genannten Neandertaler-Werkzeuge. Es war die Zeit der Bauplatzbesetzungen in Wyhl, Brokdorf, Grohnde und anderswo. Hunderttausende gingen allerorten gegen die Atomkraftwerke auf die Straße. Nicht wenige nahmen dabei oder in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich sogar kalte Hintern in Kauf – in Polizeikesseln, Hüttendörfern und später auf Castor-Transportstrecken. Die von der Atomlobby als rückwärtsgewandte Primitivlinge diffamierten Atomkraftkritiker*innen schufen eine der bedeutendsten Widerstandsbewegungen der Bundesrepublik, der es mit Ausdauer, Optimismus, Phantasie und guten Argumenten am Ende gelang, sich gegen eine der mächtigsten Branchen des Landes und ihre Fürsprecher*innen vor allem in Union und FDP durchzusetzen (siehe auch "Merkels Atom-Wendung").

Knapp 50 Jahre nach den ersten Massenprotesten und dank ihres fulminanten Wiederauflebens steht diese Bewegung und alle, die ihren Teil dazu beigetragen haben, nun kurz vor ihrem größten Sieg: der endgültigen Abschaltung der letzten AKW in Deutschland. Von den sechs Reaktoren, die noch am Netz sind, werden drei – Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C – Ende diesen Jahres ihren Betrieb einstellen (siehe auch "Vor dem Aus (Teil 1)"). Spätestens zum Jahreswechsel 2022/23 müssen die AKW Lingen/Emsland, Ohu/Isar‑2 sowie der Riss-Reaktor Neckarwestheim‑2 folgen. So hat es der Bundestag 2011 mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen beschlossen; selbst die Energiekonzerne haben das inzwischen akzeptiert. Die öffentliche Auseinandersetzung dreht sich bereits um die nächsten Fragen: Wie nun auch die fossile Stromerzeugung schnellstmöglich zurückgefahren werden kann? Und wie der Ausbau der Erneuerbaren Energien endlich wieder Fahrt aufnimmt?

Anti-Atom-Proteste

Die Anti-Atom-Bewegung hat den massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien einst angestoßen, inzwischen boomen diese weltweit (siehe Infografik). Die Atomstromproduktion haben Windkraft, Photovoltaik, Wasserkraft, Biomasse und Geothermie hierzulande bereits 2011 überholt. Im Jahr 2020 erzeugten sie zusammen rund 250 Milliarden Kilowattstunden, das ist viermal so viel, wie die verbliebenen AKW noch produziert haben. Und es ist auch weit mehr als die 170 Milliarden Kilowattstunden, welche die Atomkraft in Deutschland in ihren besten Jahren je zusammengebracht hat. Die Erneuerbaren Energien haben also rechnerisch nicht nur die Atomkraft längst komplett kompensiert, sondern darüber hinaus seit Jahren auch noch die fossile Stromerzeugung erheblich reduziert: 2019 lag diese ein Viertel unter der von 1991, im Corona-Jahr 2020 sogar ein ganzes Drittel darunter.

Krokodilstränen von Kohlefans

Um die Klimaziele einzuhalten und die fossile Stromerzeugung so schnell wie möglich herunterzufahren, müssen die Erneuerbaren allerdings deutlich schneller ausgebaut werden als zuletzt. Umso bizarrer wirkt, wenn nun ausgerechnet jene, die eben diesen Ausbau seit Jahren nach Kräften behindern und bremsen, nun schon wieder nach Atomkraft rufen oder ihr öffentlich hinterhertrauern, angeblich auch noch aus Klimaschutzgründen.

CDU-Möchtegernvorsitzender Friedrich Merz etwa, der 2010 gemeinsam mit den Chefs der Atomkonzerne in ganzseitigen Zeitungsanzeigen einen „energiepolitischen Appell“ unterschrieben hatte, in dem er für Atom- und Kohlekraftwerke warb, flötet nun auf einmal, er hätte statt der AKW lieber mehr Kohlekraftwerke abgeschaltet. Auch von CDU-Kanzlerkandidat Laschet, der unlängst im Wahlkampf in dasselbe Horn stieß, ist kein Vorstoß bekannt, mit dem er sich in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten einmal für das Abschalten von Kohlekraftwerken stark gemacht hätte – obgleich er als Ministerpräsident des Kohle-Bundeslandes NRW dazu jeden Anlass gehabt hätte. Aktiv geworden ist er vielmehr immer nur gegen ein Abschalten von Kohlekraftwerken. So etwa 2019, als die Bundesregierung am Kohleausstiegsgesetz bastelte: Da traf sich Laschet, wie Greenpeace-Recherchen belegen konnten, regelmäßig mit RWE, und zwar stets vor oder nach den entscheidenden Verhandlungsterminen. Einem Vermerk des Bundeskanzeramts zufolge traten RWE und NRW dann auch gemeinsam dafür ein, am Abriss weiterer Dörfer zugunsten des Braunkohleabbaus in Garzweiler II festzuhalten. Unterm Strich führten die Interventionen, so Greenpeace, „zu einer erheblichen Verlängerung der Laufzeiten gerade für RWEs Braunkohleblöcke“ – für den Klimaschutz also ein deutlicher Schlag ins Kontor.

Auch wenn demnächst binnen 12 Monaten insgesamt sechs AKW vom Netz gehen – was die Politik übrigens 2011, als sie die Abschaltdaten festlegte, bewusst in Kauf nahm: Die Versorgungssicherheit gerät dadurch nicht in Gefahr – siehe auch Interview „Jedes abgeschaltete AKW schafft Anreize für Erneuerbare“. Selbst für den Fall einer sogenannten Dunkelflaute, während der kein Wind weht und keine Sonne scheint, gibt es aktuell und wird es auch künftig noch ausreichend wetterunabhängige Backup-Kraftwerke geben, die bei Bedarf einspringen können. Offen ist nur noch, ob sich diese selbst am Markt finanzieren (weil sie ihren Strom in den wenigen Stunden, in denen sie noch laufen, dann zu einem sehr guten Preis verkaufen können) oder ob sie anderweitig, etwa über eine Reservekraftwerks-Regelung, bezahlt werden müssen.

Versorgungssicherheit gewährleistet

Einen ordentlichen Ausbau der Erneuerbaren und einen ausreichend hohen CO2-Preis vorausgesetzt, könnten diese Backup-Kraftwerke für eine Übergangszeit sogar mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, ohne dass dies ein Widerspruch zum Klimaschutz wäre. Schließlich werden sie umso seltener benötigt, je mehr Erneuerbaren-Anlagen am Netz sind, und hohe CO2-Preise dürften ihre Einsatzdauer zuverlässig auf das tatsächlich nötige Maß begrenzen. Laufen sie aber nur kurze Zeit im Jahr, ist auch ihr CO2-Ausstoß nicht mehr so hoch.

In einigen Jahren werden diese Backup-Kraftwerke, die die Erneuerbaren nur bei Bedarf ergänzen, dann auch selbst mit aus Erneuerbaren Energien erzeugtem Wasserstoff (oder daraus erzeugtem EE-Methan) betrieben werden. Ihr Brennstoff, speicherbar in Gasleitungen und Gaskavernen, fungiert dabei zugleich als Langzeitspeicher. Auch ohne Atomstrom, so viel ist sicher, wird also auch in windstillen kalten Nächten niemand auf Kerzen und Wärmflaschen zurückgreifen müssen. Selbst die größten Atomstrom-Fans nicht.

weiterlesen:

  • Merkels Atom-Wendung
    21.10.2021: Von der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung im Pakt mit den Atom-konzernen zum Atomausstieg Ende 2022: Der Super-GAU von Fukushima stellte Merkels Atompolitik auf den Kopf. Die Energiewende aber torpedierte die Union.
  • Auf Kosten des Klimas
    26.08.2021: In den Medien mehren sich die Stimmen, die angesichts der Klimakrise eine Renaissance der Atomkraft fordern. Mit Klimaschutz hat die neu aufgekeimte Atom-Debatte jedoch wenig zu tun.
  • Anti-Atom-Außenpolitik
    28.07.2021: Die Bundesregierung muss sich auf europäischer und internationaler Ebene aktiver für den Atomausstieg einsetzen und dazu Bündnisse mit anderen atomkritischen Ländern schließen. Interview von Armin Simon mit Patricia Lorenz.
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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