In der ersten Hälfte des Jahres 2022 wird die EU-Ratspräsidentschaft von Frankreich geleitet. Es ist damit zu rechnen, dass die Präsidentschaft dazu genutzt werden soll, den Green Deal, die EU-Taxonomie und das „Fit for 55“-Paket atomindustriefreundlich auszugestalten. Gleichzeitig laufen deutsch-französische Wasserstoff-Projekte von besonderer europäischer Wichtigkeit an, die sogenannten Important Projects of Common European Interest (IPCEI). Ebenso stehen in Frankreich strategische Weichenstellungen hinsichtlich neuer AKW und der Finanzierung von Laufzeitverlängerung an. Grund genug, sich die französische Wasserstoff-Strategie einmal genauer anzuschauen.
Zur Situation der französischen Atomindustrie
Die französische Wasserstoff-Strategie auf europäischer Ebene ist nicht ohne eine Analyse ihrer Atomindustrie zu verstehen. Ein Grundproblem ist die Alterung der Atomflotte. Bis 2028 werden 46 von 56 Reaktoren ihre maximale Betriebsdauer von 40 Jahren erreichen. Dabei lassen sich Reaktoren nicht austauschen, sind aber aufgrund der extremen physikalischen Vorgänge im Inneren einem Verschleiß der Komponenten unterworfen. Der französische Staat hat die Électricité de France (EDF) gebeten, die Kosten für den Bau von sechs neuen EPRs zu beziffern, um ggf. seinen Kraftwerkspark zu erneuern. Vor dem Hintergrund der Serienausfälle beim EPR-Bau in Flamanville mit einer Vervierfachung der geplanten Kosten von 3,3 auf 12,4 Milliarden Euro stellen sich hier kritische Fragen nach den Risiken der EPR-Technik. Ferner sei an das Fiasko beim Bau des EPR von Olkiluoto in Finnland erinnert: Das Projekt liegt zwölf Jahre hinter dem Zeitplan zurück und ist dreimal so teuer wie geplant. Aus diesem Grund – und wohl auch aus wirtschaftlichen Motiven – strebt EDF nun Laufzeitverlängerungen von 10 bis 20 Jahren an. Dies bringt jedoch vor allem ein hohes Sicherheitsrisiko für Europa mit sich und ist ebenfalls mit einem extrem hohen Kostenaufwand verbunden. Dahinter steht das energiepolitische Versagen Frankreichs wegen seiner Fixierung auf Atomkraft; aufgrund seines politischen Schlingerkurs hat es die Energiewende verschlafen. Hinzu kommen die finanziellen Schwierigkeiten: „Bis 2019 hat die quasi-staatliche EDF einen (netto) Schuldenhaufen von 37 Milliarden Euro angehäuft. Die Nachrüstungen und Ausführungsarbeiten bis 2030 werden nochmals 100 Milliarden erfordern. Dazu kommen steigende Konstruktionskosten und unterschätzte Kosten was die Stilllegung und Entsorgung radioaktiver Abfälle anbelangt“, so Bernard Laponche in einer Analyse für die Schweizer Energiestiftung SES. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die geplanten Laufzeitverlängerungen eine finanzielle Mammutaufgabe darstellen.
Zur Lösung der Finanzprobleme seiner Atomindustrie arbeitet Frankreich seit längerem daran, sich europäische Finanzmittel zu erschließen. So wird darauf gedrängt, Atomkraft in die EU-Taxonomie aufzunehmen, was neue Kredit- und Fördermöglichkeiten bedeuten würde. In der EU-Klimastrategie setzt sich Frankreich dafür ein, das Atomkraft mehr Gewicht bekommt, damit französische AKW Gelder aus dem EU-Rettungspaket und aus Töpfen des Green Deals beantragen können. Die Wasserstoff-Strategie stellt eine weitere Säule dar, um den angeschlagenen Atomsektor zu finanzieren.
Wie sieht die Wasserstoff-Strategie aus?
„Kein europäisches Land kann Wasserstoff mit einem CO2-armen Strommix so produzieren wie wir mit Atomkraft.“
Präsident Emanuel Macron
Durch die Elektrifizierung des Individualverkehrs und der Industrie und wegen der Produktion von Wasserstoff wird der Bedarf an Strom, der ohne fossile Energie hergestellt wird, in Frankreich generell steigen. Der derzeitige Anteil von Atomstrom beträgt ca. 70 Prozent im französischen Netz. Zwar soll der Anteil von Atomstrom im Energiemix perspektivisch auf 50 Prozent sinken, das Zieldatum wurde aber von 2025 auf 2035 verschoben. Die Atomindustrie wähnt sich auf Kurs. Mit dem Greenwashing von Atomstrom als klimafreundlich – ohne die versteckten Kosten durch Uranabbau, Atommüll-Lagerung und Unfallgefahr einzupreisen – verteidigt das Land mit allen Mitteln seine Atominteressen. Hier wird ein bestehendes Problem als Teil einer Lösung verkauft. Denn die Attraktivität der Wasserstoff-Technologie für Frankreich besteht gerade darin, dass sie nicht nur mit erneuerbaren Energien kompatibel ist, sondern auch mit ihrer Atomindustrie. Als großtechnologischer Entwurf bietet sie verschiedenste technische Anknüpfungspunkte und neue Legitimierungs- und Finanzierungsmöglichkeiten für die Atomkraft.
Frankreich hat als erstes europäisches Land 2018 eine Wasserstoff-Strategie beschlossen und diese 2020 erweitert. Bis 2030 sollen 7 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern in den Wasserstoff-Sektor fließen. Davon sollen 3,4 Milliarden Euro bereits bis Ende 2023 zur Verfügung gestellt werden.
Frankreich will bis zum Jahr 2030 Produktionskapazitäten für dekarbonisierten Wasserstoff von 6,5 Gigawatt schaffen, die größte Elektrolyseurleistung in Europa. So haben der französische Gasspezialist Air Liquide und der deutsche Energietechnik-Konzern Siemens Energy Anfang des Jahres eine Partnerschaft beim Geschäft mit grünem Wasserstoff verkündet. Die beiden Industriegrößen wollen mit der Zusammenarbeit ein „europäisches Ökosystem“ für die klimaneutrale Zukunftstechnologie anstoßen. Mit dem Schritt in die Massenfertigung von Elektrolyseuren sollen auch die Kosten für das strategisch wichtige Gas deutlich gesenkt werden. Nach Angaben der Regierung laufen in Frankreich derzeit Planungen von Unternehmen für mindestens vier „Gigafactories“, in denen besonders leistungsfähige Elektrolyseure hergestellt werden sollen. „Zumindest in Europa setzten die Franzosen aber weniger auf Konkurrenz als vielmehr auf Kooperation. Wie bei anderen Zukunftsprojekten sieht Paris auch beim Wasserstoff die Europäische Union als Hebel, um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können. Der Regierung geht es um Unabhängigkeit bei der Energieversorgung und technologische Souveränität“, so das Handelsblatt. Dabei positioniert sich Frankreich gegen Wasserstoff-Importe in die EU und verfolgt selbst eine Wasserstoff-Exportstrategie innerhalb Europas und im Speziellen nach Deutschland für seine Stahl- und Chemieindustrie.
Die deutsche connexion: Wasserstoff-Allianz, IPCEI-Projekte und Wasserstoff-Importe
Die deutsch-französische Wasserstoff-Allianz steht für ein Bündel von Absichtserklärungen, Dialogen und Kooperationen, dessen konkretester Ausdruck das IPCEI-Wasserstoff ist. Damit sollen Wasserstoff-Großprojekte mit staatlichen Förderungen vorangebracht werden. Das IPCEI ist im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft beschlossen worden, nachdem es im Vorfeld Staatsbesuche vom mächtigen pro-atom Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire in Berlin gegeben hatte.
Die Zukunft zeigt sich bei den IPCEI-Wasserstoff-Projekten beispielhaft am Projekt Mosel Saar Hydrogen Conversion (mosaHYc), einer geplanten Wasserstoff-Pipeline. So sollen zukünftige Wasserstoff-Produktionsanlagen in Frankreich mit Großverbrauchern wie Stahlwerken in Deutschland verbunden werden. Die Pipeline ist so dimensioniert, dass der komplette Verbrauch von Dillinger/Saarstahl gedeckt werden könnte. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) hat dieses Projekt als förderungswürdig in Brüssel eingereicht; die Bauentscheidungen für die Pipeline wird für 2022 erwartet. Zwar soll in der ersten Projektphase die Elektrolyse in Carling (F) und St. Avold (F) mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben werden. Doch ob dies in der zweiten Projektphase beim Hochskalieren so bleibt, ist fraglich. Die Hochspannungsleitungen von Carling zum Atomkraftwerk Cattenom sind ausgebaut und die Laufzeiten von Cattenom für weitere 10 Jahre geplant. Hier besteht die Gefahr, grün anzufangen und schließlich atomar-gelb zu enden, denn die Bundesregierung stellt es Frankreich frei, mit welcher Art von Wasserstoff Deutschland im Rahmen der geplanten Pipeline beliefert wird. Gleichzeitig offenbart sich hier auch die Schwäche der deutschen Wasserstoff-Politik. Deutschland muss seine Wasserstoff-Politik korrigieren, da diese zu viel auf Wasserstoff-Importe setzt und es bis jetzt versäumt, gemeinsam mit den europäischen Nachbarn einheitliche Nachhaltigkeitsstandards für die Erzeugung sowie den Transport von Wasserstoff zu entwickeln und entsprechende Nachweisverfahren zu etablieren.
Frankreich muss endlich seine historische Chance nutzen, um sein großes Potential für erneuerbare Energien zu heben, anstatt sich weiter in der nuklearen Sackgasse zu verrennen. Die französische Exportstrategie geht nur mit der deutschen Wasserstoff-Importstrategie zusammen. Eine klare Anti-Atom-Positionierung Deutschlands in der Wasserstoff-Frage hätte indirekt auch Auswirkungen auf die französischen Nuklearpläne. Wenn konsequent gelber Wasserstoff durch Zertifizierung und klaren Ausschluss dieser Art von Wasserstoff-Importen aus Deutschland herausgehalten wird, würde für Frankreich der wichtigste Exportmarkt für seinen gelben Wasserstoff versperrt bleiben und damit auch eine Finanzierungsquelle für den verschuldeten Atomkonzern EDF.
weiterlesen:
- Atomlobby hofft auf Wasserstoff
18.5.2021: In einem klimaneutralen Europa wird Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen. Doch setzt sich die Atomlobby durch, könnte der für die Wasserstoff-Erzeugung benötigte Strom am Ende nicht nur aus erneuerbaren Energien stammen – sondern auch aus AKW. - Gelber Wasserstoff als potentielle Krücke der europäischen Atomkraft
23.3.2021: In der EU wird darum gestritten, welche Rolle Atomkraft und fossiles Gas in der europäischen Wasserstoffstrategie spielen. Doch was hat es eigentlich mit diesem Wasserstoff-Hype auf sich, wo liegen die Gefahren aus atomkritischer Perspektive und was muss passieren, damit das ganze nicht im Greenwashing endet?