Das „Schönreden“ der Folgen der Reaktorkatastrophe von Fukushima erreicht mehr als zehn Jahre nach dem Ereignis einen neuen Höhepunkt. Ein Team der internationalen Atomenergielobby IAEO hat eine Einschätzung zur Bewältigung abgegeben, die teilweise ehrlich – aber extrem verharmlosend – ist.
Es handelt sich um den fünften, umfangreicheren Bericht der IAEO zur Lage in Fukushima. Das Team habe seit der letzten Überprüfung im Jahr 2018 „Fortschritte in einer Reihe von Bereichen“ feststellen können. Ob jedoch – so wie von AKW-Betreiber TEPCO immer wieder propagiert – die „Stilllegung“ der zerstörten Meiler innerhalb der kommenden 30 Jahre abgeschlossen sein werde, sei zweifelhaft. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, ob der Termin eingehalten werden kann, und ich weiß nicht, ob es überhaupt jemand weiß“, erklärte Christophe Xerri, Leiter eines beteiligten IAEO-Teams. „Jeder Vorgang, so einfach er erscheinen möge, ist hochkomplex“, heißt es in dem „internationalen Peer Review des mittel- und langfristigen Fahrplans Japans zur Stilllegung des AKW“. Der Umgang mit den teilweise hochradioaktiven Trümmern und belasteten Abwässern bleibe ein „einzigartiges komplexes und anspruchsvolles Unternehmen“. Allerdings habe es der Standort innerhalb von zehn Jahren „aus einer Notfallsituation in eine industrielle Stilllegung gebracht“.
Als Begründung für diese Bewertung zieht die IAEO heran, dass mit der Einleitung ins Meer eine „Lösung“ für die mehr als eine Millionen Tonnen Kühlwasser gefunden worden sei. Vorige Woche hatten die japanische Regierung und die Tokyo Electric Power Company angekündigt, dafür einen ein Kilometer langen Unterwassertunnel ins Meer bauen zu wollen. So könne sich das zwar vorgereinigte, aber weiter mit Tritium und möglicherweise weiteren Radionukliden kontaminierte Wasser leichter verteilen.
„Wir wissen nicht, wie radioaktiv das behandelte Wasser wirklich ist, aber unseren Schätzungen nach liegen allein die Tritiumwerte schon bei rund einer Million Becquerel pro Liter“, berichtete 2019 das Citizens‘ Nuclear Information Center in Japan.
Nicht nur die direkt betroffenen örtlichen Fischer und Landwirte protestieren gegen die Pläne. Die Deutsche Redaktion von Radio China International berichtet von einer Analyse der Deutschen Gesellschaft für Meereskunde, nach der sich das nukleare Abwasser innerhalb von 57 Tagen nach der Einleitung zum größten Teil im Pazifischen Ozean ausbreiten und innerhalb von 10 Jahren die globalen Gewässer erreichen werde. Schon 2012 hatten Wissenschaftler*innen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel die Ausbreitung der bei dem GAU im März 2011 freigesetzten großen Mengen an radioaktiven Substanzen mit Hilfe einer Modellstudie untersucht. Starke Verwirbelungen an der japanischen Küste hätten das radioaktive Wasser schon anderthalb Jahre später zwar stark verdünnt – aber über nahezu den halben Nordpazifik verteilt. Nach etwa drei Jahren sollten erste Ausläufer die nordamerikanische Küste erreicht haben. Im Ostpazifik seien die ozeanischen Wirbel deutlich geringer, wodurch sich die weitere Abnahme der radioaktiven Konzentration durch Verdünnung deutlich verlangsamt. Noch über Jahre hinweg werden die Strahlungswerte im Nordpazifik „deutlich über denen vor der Katastrophe liegen“, so das GEOMAR-Zentrum.
Damit liegt es auf der Hand, dass die Einleitung von nuklearen Abwässern aus Fukushima ein globales ökologisches Problem darstellt, das bedeutsam ist für das Ökosystem der Meere und letztlich für das Leben und die Gesundheit aller Menschen.
Mit dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen haben sich alle Staaten – auch Japan – verpflichtet, die Meeresumwelt zu schützen und zu erhalten. In Artikel 194 heißt es, dass zur Verhütung der Verschmutzung der Meeresumwelt „ungeachtet ihrer Ursache“ die geeignetsten dem Land zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen sind. Anderen Staaten und ihrer Umwelt darf kein Schaden durch Verschmutzung zugefügt werden. Wenn Japan also auf die Einleitung der nuklear verseuchten Abwässer besteht, haben nicht nur die Nachbarländer im asiatisch-pazifischen Raum, sondern Küstenländer in der ganzen Welt das Recht, Maßnahmen zu ergreifen und auch Entschädigungen von Japan zu fordern.
Als Alternative zur Einleitung des Kühlwassers in den Ozean hatten Kritiker*innen empfohlen, möglichst erdbebensichere Aufbewahrungsanlagen an Land zu errichten, in denen über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren viele radioaktive Isotope durch ihren natürlichen Zerfall einiges an Gefährlichkeit verlieren würden. Japan setze auf die Verklappung, weil es die günstigste und nachhaltigste Art ist, den Atommüll loszuwerden.
Kein Gramm Corium geborgen
Weiter berichtet die IAEO in ihrem Peer Review zu den Fortschritten des eigentlich größten Problems, nämlich dem Umgang mit der geschmolzenen, hochradioaktiven Brennelement-Masse im Innern der Reaktorblöcke 1, 2 und 3. Auch hierbei gebe es „Fortschritte“: Es sei ein spezieller Roboter entwickelt worden, mit dem eine Probe von den geschmolzenen Brennstäben genommen werden könne. Dieser wird sich allerdings beweisen müssen. Anfang des Jahres war bekannt geworden, dass bei zwei der drei Reaktoren allein das 1,80 Meter dicke Schutzschild um den Reaktorkern so stark strahlt, dass man den dreischichtigen Deckel besser nicht anheben sollte. Von der eigentlichen Bergung des Atommülls ist TEPCO noch weit entfernt. Geschweige denn von einer fachgerechten, möglichst sicheren langfristigen Lagerung.
Offen bleibt die Frage, wie die IAEO zu der Einschätzung gelangt, es handle sich bei diesen Umständen nicht mehr um eine Notfallsituation. Eine unterstellte „industrielle Stilllegung“ des AKW-Komplexes müsste aus dem Verständnis der allgemeinen Öffentlichkeit heraus gleichzusetzen sein mit etwa dem Abriss eines deutschen Atomkraftwerks. Die Sozialwissenschaft benennt diese Art der Kommunikation, bei der unterschiedliche Formulierungen einer Botschaft bei gleichem Inhalt zur Beeinflussung des Verhaltens der Empfänger*innen eingesetzt werden, „Framing“. Man könnte also auch sagen, dass die IAEO mit ihrem fünften Peer-Review zur Zukunft Fukushimas ihrer Rolle als Atomlobby-Organisation gerecht wird, indem sie die dramatischen Umstände stark verharmlost und als „lösbare, technische Herausforderungen“ darstellen möchte. Der IAEO bleibt dann am Ende auch nicht viel mehr, als die Forderung an Japan, das Land solle „ausreichende Ressourcen für die Vorbereitung von Maßnahmen über das nächste Jahrzehnt hinaus“ zur Verfügung stellen.
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