Alle AKW abschalten

27.07.2021 | Armin Simon
Akute Gau-Gefahr
Foto: Julian Rettig

Die noch laufenden Atomkraftwerke müssen sofort abgeschaltet werden, nicht erst Ende 2022. Einen Sicherheitsrabatt zum Ende der Laufzeit darf es nicht geben.

Sie nimmt wieder zu, die Gefahr, gerade jetzt, wenn es auf das Ende zugeht. Fünf Monate haben die AKW Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen noch, die AKW Ohu, Lingen und Neckarwestheim noch maximal 17 Monate – das sagt das Atomgesetz. Selbst der jüngste der Reaktoren, Neckarwestheim-2, hat schon über 30 Jahre auf dem Buckel. In diesem Alter nimmt die Störanfälligkeit wieder zu, das Risiko steigt: Technisch aufgrund von Materialermüdung und -alterung; organisatorisch und politisch, weil alle das Ende schon im Blick haben und damit auch der Streit um die Atomkraft, der jahrzehntelang für öffentlichen Druck gesorgt hat, an Kraft verliert.

Rechtlich ist die Sache klar: AKW müssen bis zum letzten Tag alle Sicherheitsanforderungen erfüllen, andernfalls schon vor dem gesetzlichen Abschaltdatum vom Netz. Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass die Atomaufsichtsbehörden das von alleine so nicht durchsetzen. Korrosionen etwa gehören zu den bekanntesten Alterungsphänomenen. Auch die gefährliche Spannungsrisskorrosion gehört dazu, bei der sich unvorhersehbar wachsende Risse bilden. Im AKW Emsland wurden 2019 und 2020 solche Risse nachgewiesen. 2021 allerdings nicht mehr – weil Betreiber RWE einfach die Untersuchungen, die weitere hätten entdecken können, gestrichen hat. Die niedersächsische Atomaufsicht hat bisher nicht interveniert. Auch im baugleichen AKW Ohu fanden nur Stichprobenkontrollen statt, den Angaben zufolge bisher ohne Befund.

Im AKW Neckarwestheim‑2 hingegen haben sich in den vergangenen Jahren mehr als 300 Risse gebildet. Dass die Korrosion hier so massiv auftritt, hat viele Ursachen, die jede für sich schon sicherheitsrelevant sind. Das geht aus internen Behördenakten hervor, die .ausgestrahlt einsehen konnte. Das beginnt mit aus Kostengründen gestrichenen Kontrollen. Es setzt sich fort in jahrelang ignorierten Lecks, durch die salzhaltiges Neckarwasser in den Dampfkreislauf des Reaktors eindringen kann, und in der absichtlichen jahrelangen Einspeisung von Sauerstoff in denselben. Deren fatale Nebenwirkungen – massive Rostablagerungen –, hatte niemand auf dem Schirm. Letztlich wurden die vier mehrere hundert Tonnen schweren Dampferzeuger des Kraftwerks dadurch unrettbar geschädigt – alles unter den Augen einer grün geführten Atomaufsicht.

Das Ganze kumuliert 2017 in einer Melange aus Vertuschung, Ignoranz und Ahnungslosigkeit, in der der AKW-Betreiber EnBW alle Hinweise auf eine mögliche Rissgefahr verschweigt, die Behörde die gleichlautenden Warnungen ihrer eigenen Expertengremien ignoriert und den Reaktor, der bereits Korrosionsbefunde aufweist, ohne Ursachenklärung wieder ans Netz lässt. Der Öffentlichkeit gegenüber streitet die Atomaufsicht damals jede Rissgefahr explizit ab – um sich dann, anderthalb Jahre später, verwundert über die mehr als 100 inzwischen entdeckten zum Teil tiefen und langen Risse zu zeigen. Nichtsdestotrotz setzt die eigentlich der Aufsicht verpflichtete Behörde weiterhin hinter jede noch so abstruse These und Argumentation des Betreibers ihren Haken, lässt die Rechenergebnisse prüfen, aber nicht die verwendeten Formeln, und bescheinigt dem Reaktor schließlich Rissfreiheit – um dann, neun Monate später, fast hundert weitere übersehene Risse einräumen zu müssen: Die Messmethode war ungeeignet. Die zahlreichen beteiligten Sachverständigen üben sich fleißig im Tunnelblick, niemand betrachtet das Ganze oder prüft die Behauptungen anderer. So darf der Reaktor, in dem – von allen unbestritten – bis heute korrosive Bedingungen herrschen, die stets neue Risse hervorrufen, immer wieder ans Netz.

Sicherheitsrisiko grüne Atomaufsicht

Die grünen Umweltminister*innen unterstellte Atomaufsicht in Baden-Württemberg sieht selbst dann noch keinen Grund zum Einschreiten, als zwei von ihr selbst beauftragte Gutachten bestätigen, wovor .ausgestrahlt seit Jahren warnt: Dass die korrosionsbedingten Risse unbemerkt und unvorhersehbar so groß werden können, dass ein Bersten essentieller Rohre nicht mehr auszuschließen ist. Die Integrität der Rohre ist somit nicht mehr nachzuweisen. Ebendies hatten bereits zwei von .ausgestrahlt vorgelegte Gutachten dargelegt.

Den Chef-Atomaufseher im Ländle, der gerne betont, er sei kein Techniker, ficht all das nicht an. „Alle Sachverständigen, die es in der Bundesrepublik gibt, haben bestätigt, dass die Anlage, so wie sie jetzt ist, den höchsten Sicherheitsanforderungen entspricht“, behauptet er wider besseren Wissens noch Anfang Juli 2021 im Lokalfernsehen.

Stellen wir uns vor, der Reaktor wäre ein Auto. Korrosive Bedingungen führen dazu, dass sich hier seit Jahren immer wieder aufs Neue Radmuttern lockern. Wie schnell das passiert und nach wie vielen Kilometern sie eventuell sogar abfallen, ist nicht vorhersehbar. Klar ist nur: Fallen sie ab, kann man das während der Fahrt erst einmal nicht bemerken. Unter Umständen fährt das Auto sogar ohne Radmuttern noch normal weiter. Allerdings könnten sich dann jederzeit, erst recht an einer Holperstelle oder bei einem Ausweichmanöver, ein oder mehrere Räder von der Achse lösen – dann droht ein schwerer Unfall. Frage: Darf ein solches Auto, besetzt mit Hunderttausenden Menschen im Großraum Stuttgart/Heilbronn, noch mit 100 Sachen über die Landstraßen brettern?

Selbstverständlich nicht. Jede*r auf seine*ihre Sicherheit bedachte Passagier*in würde vielmehr verlangen, vor einer Weiterfahrt die systematische Fehlerursache, also die korrosiven Bedingungen, zu beseitigen und somit sicherzustellen, dass sich keine Muttern mehr lösen können. Auch das Kerntechnische Regelwerk (KTA 1403) fordert dies.

Die baden-württembergische Atomaufsicht aber sagt: Weiterfahren kein Problem, alles sicher. EnBW, die Halterin des Autos, habe schließlich nachgewiesen, dass nichts passieren könne, solange die Radmuttern nicht abfielen. Zweitens habe sie nachgewiesen, dass man das Abfallen von Radmuttern unter Umständen sogar auch während der Fahrt bemerken könne, und zwar dann, wenn diese zufällig an Leitplanken schlügen, das würde man hören. In diesem Fall könne der Wagen dann unverzüglich bremsen, bevor ein Rad verloren gehe. Im Übrigen würde man jährlich alle Radmuttern kontrollieren und lockere ersetzen. Zudem habe noch nie jemand eine Radmutter gegen eine Leitplanke schlagen hören. Alles klar?

AKW-Betrieb mit 0,6 Promille

In Neckarwestheim sind im Betriebsjahr 2020/21 zweieinhalb mal so viele Risse entstanden wie noch 2019/20, sogar unabhängig von der Anzahl ein klarer Beleg dafür, dass die Korrosion weiter aktiv ist. Das Ministerium hingegen verbreitet: „Die Anzahl der sicherheitstechnisch relevanten Befunde ist (…) rund 0,6 Promille höher als im Vorjahr.“ Das ist nicht nur mathematischer Unsinn, sondern auch Irreführung der Öffentlichkeit. Im Übrigen gilt für AKW in Bezug auf Risse, die durch systematische Korrosion verursacht werden und schwere Störfälle verursachen können, eine präzise Null-Promille-Grenze. Alles andere ist nicht akzeptabel und rechtlich nicht zulässig.

Eine Atomaufsicht, die da schwankt, sollte die Finger vom Steuer lassen.

weiterlesen:

  • 08.06.21: Eilantrag beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim auf einstweilige Anordnung zur vorläufigen Stilllegung des AKW Neckarwestheim-2
  • Das Gutachten des Reaktorsicherheitsexperten Dipl.-Ing. Dieter Majer, Ministerialrat a.D. und ehemals einer der höchsten Atomaufseher im Bundesumweltministerium, erhebt schwere Vorwürfe gegen die dem grünen Umweltministerium in Stuttgart unterstellte Atomaufsicht. 
  • Im roten Bereich
    5.2.2021: Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt.
  • Mehr Informationen zum AKW Neckarwestheim
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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