Die Situation um das Hochwasser im Westen Deutschlands und den angrenzenden Ländern ist dramatisch. Auch Atomkraftwerke sind betroffen. Die Lage im belgischen Tihange sei „stabil“, die Atomaufsicht sprach aber von „erhöhter Wachsamkeit“. Experten warnen schon lange, dass einige AKW-Standorte durch die Auswirkungen des Klimawandels „langfristig in Schwierigkeiten geraten“.
Die meisten Atommeiler beziehen ihre gigantischen Mengen Kühlwasser aus direkt angrenzenden Flüssen. Treten diese über ihre Ufer und überfluten das AKW-Gelände, kann das dramatische Folgen haben. So kann es durch Überflutung zum Ausfall elektrischer Systeme kommen, ein hochwasserbedingter Stromausfall kann im Ernstfall, etwa bei Überflutung oder Fehlern mit den Notstromgeneratoren, zum gefürchteten „Station Blackout“ führen. Zudem kann ein weitreichendes Hochwasser Nachschubprobleme verursachen (z.B. Treibstoff für Notstromdiesel) oder die Erreichbarkeit für die Betriebsmannschaft einschränken. Auch abgeschaltete Reaktoren sind für die Kühlung weiterhin auf die elektrische Versorgung angewiesen.
Deshalb wurden bei der Genehmigung der Anlagen „Jahrtausendhochwasser“ für die nötige Auslegung von Schutzmaßnahmen zugrunde gelegt. Die Tsunami-Wellen von Fukushima im März 2011, die zum mehrfachen Super-GAU geführt hatten, waren wohl das absolute Extrem. Dennoch sorgte die Katastrophe dafür, dass unter anderem der Hochwasserschutz zahlreicher europäischen Atomkraftwerke nachgebessert werden musste.
Rekordpegel bei belgischem AKW
Anhaltende schwere Regenfällen haben im Westen Deutschlands und den angrenzenden Ländern große Überschwemmungen verursacht. Die Wasserstände der Flüsse waren durch die Wassermassen schnell angestiegen. Eine Reihe von Städten und Dörfern entlang der Flüsse Maas und Rur in Limburg (Niederlande) wurde zur Evakuierung aufgefordert, nachdem die Wasserstände Rekordhöhen erreicht hatten. Der Pegelstand im belgischen Huy stieg am 16. Juli auf 3,51 Meter, die Maas führte ein Hochwasser bis 2140 Kubikmeter pro Sekunde. In direkter Nachbarschaft befinden sich die drei Meiler von Tihange. Block 2 machte in den letzten Jahren Schlagzeilen, nachdem tausende Risse im Reaktorbehälter gefunden worden waren. Für den Hochwasserschutz des AKW wurde ein historisches Bemessungshochwasser aus dem Jahre 1926 mit 1862 Kubikmeter pro Sekunde herangezogen - und ein Sicherheitspuffer von 20 Prozent angesetzt (= 2234 Kubikmeter pro Sekunde). Mit dieser Auslegung wäre die Anlage also nur knapp an einer Überflutung des Geländes vorbeigeschrammt. In der Nacht auf den 17. Juli ging der Wasserstand der Maas glücklicherweise wieder zurück.
Nach den Erfahrungen aus Fukushima wurden Überflutungsereignisse analysiert, die zum vollständigen Ausfall der Notstromversorgung führen würden. Für Tihange wurde der Wert von ca. 3500 m³/s festgelegt. Resultiert sind für zahlreiche Anlagen in Europa Auflagen für Nachrüstungen. In Tihange wurden Flutschutzmauern erhöht - doch dann wurde „dieses Konzept des Schutzes gegen Überflutung aus nicht näher bekannten Gründen zurückgefahren, so dass das Risiko einer Überflutung des Standortes nach wie vor besteht“, heißt es in dem Report „Risiken von Laufzeitverlängerungen alter Atomkraftwerke“ der International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG), Stand April 2021. Möglicherweise wird dort gespart, weil Block 2 2023, Block 1 und 3 zwei Jahre später stillgelegt werden sollen.
Komplexe Risiken
Durch die fortschreitende Klimakrise steigt das Risiko beim Betrieb von Atomkraftwerken an, besonders durch Extremwetter wie Hochwasser und Trockenperioden. In den letzten Jahrzehnten hat sich die durch Überschwemmung verursachte Bedrohung „an vielen AKW-Standorten erhöht“, bilanziert der INRAG-Report. Der Grund dafür ist sowohl eine Änderung in der Situation (z. B. Klimawandel, Aufbau von Dämmen, die Verminderung der natürlichen Überschwemmungsflächen) als auch eine Änderung in der Bewertung der Bedrohung. Ereignisse mit Überschwemmung in AKW hätten gezeigt, dass Wasserstände – auch unterhalb des theoretisch vorhandenen Niveaus des Hochwasserschutzes – Sicherheitseinrichtungen beschädigt haben. Als Grund dafür nennt INRAG beispielsweise falsche Berechnungen des Wasserwiderstands von Türen oder korrodierte Versiegelung bei Kabeldurchdringungen. Überflutungsereignisse bergen zudem die Gefahr „redundante Sicherheitssysteme gleichzeitig funktionsunfähig zu machen. Diese Gefahr ist für alte AKW u. a. aufgrund der fehlenden räumlichen Trennung größer.“
Das Risiko für Atomanlagen wird auch durch indirekte Wirkungen der Klimaänderung erhöht. Waldbrände oder Überschwemmungen können etwa Zugänglichkeit beschränken, Unwetter das Stromnetz und damit die externen Stromleitungen zur Anlage unterbrechen. INRAG nennt drei Einflussfaktoren durch den „gegenwärtigen, menschenverursachten Klimawandel“: Die Effzienz von AKW geht mit steigender Temperatur zurück, da Anzahl und Dauer von Ausfällen mangels Kühlwassers zunehmen können. Einige Standorte können an Sicherheit verlieren, wobei insbesondere der Anstieg des Meeresspiegels von Bedeutung ist. Die Häufigkeit wetter- und klimabedingter Extremereignisse sowie deren Intensität ändern sich mit möglichen Folgen für Sicherheitsanforderungen.
Wahrscheinlichkeiten werden unterschätzt
Doch es gibt noch weitere Probleme: Bei Extremhochwasser drohen den schweizerischen AKW Beznau und Gösgen Gefahr durch Erosion, weil die Anlagen auf Sand und Kies gebaut wurden. Bei einem extremen Hochwasser, das statistisch alle 100.000 Jahre vorkommt, würde das Gelände der beiden AKW über einen Meter tief geflutet werden. Die Energiestiftung SES hat im Februar diese Studie zur Gefährdungsbeurteilung durch Extremhochwasser an Aare und Rhein vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) kritisiert: „Die große Gefahr steckt in den möglichen Verstopfungen von Wehren und Brücken rund um die AKW“, so Simon Banholzer von der SES. Die Studie lasse den Einfluss des Klimawandels auf Hochwasservorkommnisse aussen vor. Das BAFU selbst erklärt seit einiger Zeit, dass Langzeitbeobachtungen alleine nicht mehr ausreichen für ein vertieftes Verständnis des Zusammenhangs zwischen Klimaänderung und Extremereignissen. Entsprechend liege nahe, dass die Wahrscheinlichkeiten für extreme Hochwasser unterschätzt werden.
„Die Klimakrise verschärft das nukleare Risiko weiter. Wir fordern, die hochwassergefährdeten Atomkraftwerke sofort vom Netz zu nehmen und verstärkt in ein erneuerbares Energiesystem zu investieren, welches sowohl die Folgen der Klimakrise abmildert als auch sicher zu betreiben ist“, fordert Dr. Hauke Doerk, Referent für Radioaktivität am Umweltinstitut München.
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