„Strahlung ist auch in niedriger Dosis nicht unbedenklich“

28.05.2021 | Anna Stender
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Foto: privat

Marie Weigenand, Jahrgang 1986, engagiert sich in der Bürgerinitiative „Lübeck ohne Atomschutt“ gegen die Deponierung von radioaktivem AKW-Abrissmaterial – und für eine Diskussion darüber, wie es langfristig sicher gelagert werden kann.

Im Herbst 2020 ging durch die Nachrichten, dass das Kieler Umweltministerium auf der Deponie Lübeck-Niemark Bauschutt aus dem Abriss des AKW Brunsbüttel einlagern will. Umweltminister Jan Philipp Albrecht dementierte dann zwar eine Vorfestlegung auf Lübeck, bestätigte aber, dass es eine Zuweisung geben wird, weil kein Standort den Atomschutt freiwillig nimmt.

In unserem Nachbarschafts-Chat ging gleich ganz viel Kommunikation los. Nach und nach wurde uns erst klar, was da genau geplant ist. Ich habe nach dem Einstieg in das Thema schnell verstanden, wie wichtig Aufklärung ist, damit die Leute sich überhaupt wehren können. Viele denken, weil das Material vorher ‚freigemessen‘ wird, ist es frei von Strahlung. Es ist kaum bekannt, dass die Freigabe nur bedeutet, das Material ist aus der Atomaufsicht entlassen. Im juristischen Sinne gilt es dann als ‚nicht radioaktiv‘, obwohl es tatsächlich noch radioaktiv ist, auch wenn es teilweise mehrfach dekontaminiert wurde. Dabei sind Mediziner*innen der Auffassung, dass Strahlung auch in niedriger Dosis nicht unbedenklich ist. Wir stellen außerdem wegen des Messverfahrens, der Höhe der Freigabewerte und der Menge des Abrissmaterials ganz stark in Frage, dass nur eine Belastung von 10 Mikrosievert pro Person und Jahr herauskommen wird. Das ist der gesetzliche Grenzwert. Dabei wäre das durch eine andere Lagerung vermeidbar!

Schon ein paar Tage nach der Nachricht haben wir die BI ‚Lübeck ohne Atomschutt‘ gegründet. Da dachte ich zum ersten Mal: ‚Mensch, wir können was auf die Beine stellen!‘ Für den Namen haben wir uns entschieden, weil er kurz ist und die Leute merken, dass es um Lübeck geht. Wir sind trotzdem keine NIMBYs, auch wenn manche versucht haben, uns in diese Ecke zu stellen. Wir wollen, dass die Lagerung von AtomSchrott auf herkömmlichen Deponien verhindert wird, und zwar nicht nur in Lübeck. Deswegen sind wir mit allen Standorten solidarisch und an einer Vernetzung interessiert. Wir sind bereits in Kontakt mit Aktiven der Bürgerinitiative Atommüll Einlagerung Stopp Harrislee (baesh), die ebenfalls seit Jahren gegen die Deponierung von freigemessenen Abfällen kämpft.

Kurz darauf haben wir eine Chatgruppe ins Leben gerufen. Wir haben auch eine Facebook-Seite, wo wir regelmäßig Presseartikel zum Thema posten, lesenswerte Sachen aus der Wissenschaft verlinken und über Aktionen berichten. So haben wir für Reichweite gesorgt. Dann hatten wir auch schnell eine eigene Webseite mit vielen Informationen.

Direkt im September haben wir eine landesweite Petition gestartet mit einem Ziel von 2.000 Unterschriften. Es gab einen Artikel in einer Lokalzeitung, wo wir mit unserer Kritik zu Wort kamen. Mit 8.000 Flyern, die wir netterweise von einer Druckerei gesponsert bekommen haben, sind wir losgezogen in Wohngebiete im Umkreis der Deponie. Ich habe Plakate mit Abrisszetteln aufgehängt und Unterschriftenlisten ausgelegt. Viele Helfer*innen haben letztlich zum Erfolg beigetragen: Am Ende waren es 2.500 Unterschriften. Die haben wir beim Petitionsausschuss in Kiel eingereicht. Wir haben bis heute keine Reaktion darauf.

Dann hatten wir noch eine Aktion mit statisch haftenden Stickern, davon haben wir 1.500 in der Stadt verteilt. Dabei habe ich mich gefreut, wenn Passanten dann gesagt haben: ‚Super Aktion, gib mir mal einen Stapel, ich mach mit!‘ Es war sehr schön zu sehen, dass das so angenommen wurde von den Lübecker*innen.

Das Thema hat in den letzten Monaten richtig von mir Besitz ergriffen. Es ist auch schon fünf nach zwölf, die ersten Lieferungen sollen bald erfolgen, dadurch ist ein enormer Zeitdruck entstanden. Deswegen habe ich wochenlang bis Mitternacht am Rechner gesessen, um mich zu informieren und mit Leuten zu diskutieren. Da habe ich gemerkt, wie zeitintensiv das ist, weil man auch ganz viel Gegenwind bekommt und darauf reagieren muss. Andererseits ist es ein schönes Gefühl, wenn man es schafft, die Leute zum Reflektieren zu kriegen. Ich will die Deponierung auf jeden Fall verhindern, denn ich sehe da ein großes Risiko, gerade für unsere Kinder und zukünftige Generationen.

Anfang 2021 war dann klar, dass ein Großteil der ersten Lieferungen, etwa 11.500 Tonnen bis Ende 2022, tatsächlich nach Lübeck kommen soll. Die genaue Menge steht erst fest, wenn das Material freigemessen ist. Das Kieler Umweltministerium rückt immer den Teil in den Fokus, der sowieso deponiert werden muss, weil er nicht recycelbar ist, wie Dämmwolle oder Asbest. Der allergrößte Teil ist aber ein Gemisch aus Beton, Keramik und Fliesen. So etwas wird normalerweise schon recycelt, selbst wenn es noch leicht radioaktiv ist. Das geht aber in diesem Fall nicht – weil die Radioaktivität selbst nach der Freigabe immer noch zu hoch ist. Darüber wird ganz bewusst nicht gesprochen. Wir haben an mehreren Videokonferenzen mit Minister Albrecht teilgenommen. Der weicht gnadenlos aus. Was er zu dem Thema sagt, ist gespickt mit falschen Aussagen, Verharmlosungen, Verdrehungen. Erst dachten wir, er weiß es nicht besser, aber inzwischen glaube ich, dass er das gezielt macht.

Die Lübecker Grünen sagen: ‚Wenn ihr den Atom-Schutt freiwillig nehmt, können wir noch ein paar Maßnahmen aushandeln.‘ Man wollte uns auch in einer Begleitgruppe haben. Da haben wir uns dann kurz beraten und abgelehnt, weil das in unseren Augen nicht vereinbar ist, die Deponierung verhindern zu wollen und andererseits Konditionen auszuhandeln. Warum ist das Verhandlungssache und nicht Voraussetzung? Jetzt wurde beantragt, Messungen durchzuführen – eine Beruhigungspille. Unsere Angst bezieht sich vor allem auf die Alpha- und Betastrahler, die schon in kleinsten Mengen gesundheitsschädigend sind, wenn sie über Stäube eingeatmet werden, auf Lebensmitteln landen oder irgendwann im Grundwasser. Aber die Messgeräte können Alpha- und Betastrahlung gar nicht erfassen, nur Gammastrahlung. Wir müssen sehen, dass das nicht zum Durchwink-Signal wird für die Deponierung und die Akzeptanz stark erhöht. Das ist aktuell unsere größte Sorge, weil kein*e wirklich unabhängige*r Expert*in mit im Boot sitzt.

Viele Lübecker*innen denken, die Deponierung könne ja nicht schlecht sein, wenn sogar die Grünen dafür sind. Das ist ein Problem. Die Grünen müssten endlich eingestehen, dass die rot-grüne Novelle der Strahlenschutzverordnung 2001, die das ‚Freimessen‘ erlaubt, ein Fehler war. Tun sie aber nicht. In meinen Augen haben sie deshalb längst ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Wir stehen im Austausch mit den Parteien, der Presse und den Lübecker Bürger*innen. Es ist sehr schön, dass man nach so kurzer Zeit ernst genommen wird. In der Bevölkerung gibt es zwar überall Protest, aber es wird auch als zweischneidiges Schwert gesehen. Viele wollen das Thema nicht an die große Glocke hängen, weil sie Angst haben um ihre Kund*innen und den Wert ihrer Immobilien.

Wir fordern, dass Minister Albrecht die kritischen Stimmen ernst nimmt und sich auf Landesebene für eine sichere und einvernehmliche Lösung einsetzt, die dann auch den Weg in die Bundesgesetzgebung findet. Es werden ja noch mehr AKW abgerissen, in Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland. Die Freimessung ist umstritten, und die radioaktive Belastung in Brunsbüttel wird durch die Dekontamination sogar steigen. Deswegen ist es solidarisch zu sagen, wir müssen eine andere Lösung finden. Warum diesen ganzen Müll dekontaminieren, um ihn dann auf eine Mülldeponie zu kippen, wo er nicht rückholbar ist, nicht überwacht wird? Warum das Material nicht am AKW-Standort lassen und sicher einschließen?

Da die Stadt Lübeck Rechtsmittel einlegen will, kommt es voraussichtlich zu einer Verzögerung. Wir hoffen immer noch, die Deponierung am Ende ganz zu verhindern – juristisch oder politisch.“

Protokoll: Anna Stender

weiterlesen:

  • „Eigentlich müssten alle Generationen nach uns mit am Tisch sitzen“
    17.2.2021: Ulrike Laubenthal, 54, ist seit ihrer Jugend in der Friedensbewegung und der Anti-Atom-Bewegung aktiv und setzt sich bei der Standortsuche für ein Atommüll-Lager dafür ein, dass konsensbildende Prozesse zum Einsatz kommen.
  • „Die ganze Welt drückt die Snooze-Taste“
    16.9.2020: Leona Morgan, 39, ist Diné (Navajo) und lebt in New Mexico nahe der selbstverwalteten Navajo Nation. Seit Jahren klärt sie die Menschen vor Ort über die Folgen der Strahlenexposition durch verlassene Uranminen auf und setzt sich gegen neue Atomprojekte ein.
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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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