Der ehemalige Chef-Atomaufseher im Bundesumweltministerium Dieter Majer fordert, das AKW Neckarwestheim‑2 sofort vom Netz zu nehmen: Nach allen vorliegenden Unterlagen bestehe die akute Gefahr eines schweren Atomunfalls. Die 2018 erstmals entdeckten Risse seien aufgrund der besonderen sicherheitstechnischen Bedeutung sogar als INES-2-Ereignis einzustufen, offiziell: „Störfall“.
Die seit 2018 im AKW Neckarwestheim‑2 vor den Toren Stuttgarts entdeckten Risse in dünnwandigen Rohren des Reaktorkreislaufs sind nach den Maßstäben der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO als „Störfall“ der INES-Kategorie 2 zu werten – auf der gleichen Stufe wie der Beinahe-GAU im schwedischen AKW Forsmark 2006. Zu diesem Ergebnis kommt der ehemalige Leiter des Bereichs Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen im Bundesumweltministerium, Dipl.-Ing. Dieter Majer in einer für .ausgestrahlt angefertigten gutachterlichen Stellungnahme. Die zum Teil langen und tiefen Risse, verursacht durch die gefährliche Spannungsrisskorrosion, stellten „Befunde mit besonderer sicherheitstechnischer Bedeutung, jedoch ohne tatsächliche Auswirkungen“ dar. Das kann man lesen als: Es war nur Glück und Zufall, dass bisher nichts passiert ist. Die Gefahr weiterer Risse ist bis heute nicht gebannt, der Störfall dauert damit bis heute an.
Ereignisse ab INES 2 müssen umgehend der IAEO gemeldet werden. In all den Jahrzehnten, in denen Atomreaktoren laufen, war das in Deutschland bisher dreimal der Fall; Neckarwestheim wäre der vierte. Allerdings stufte EnBW die Risse 2018 als „Ereignis ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung“ (INES 0) ein und der zuständige INES-Officer bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) beanstandete das bisher nicht.
Geht von den Rissen eine Gefahr aus?
Maßgeblich für die Einstufung ist, ob von den Rissen eine Gefahr ausgehen kann oder nicht. EnBW, Atomaufsicht und die von ihr beauftragten Gutachter verneinen das bisher. Sie argumentieren, alle bereits entdeckten Rissrohre seien immer noch so stabil gewesen, dass ihr spontanes Abreißen auszuschließen gewesen sei. Ebenso könnten auch alle potenziell auftretenden weiteren Risse die Stabilität der Rohre nicht gefährden. Alle Risse nämlich, so die offizielle Legende, würden auf jeden Fall zunächst ein detektierbares Leck bilden, bevor die Rohre instabil würden.
Der ehemalige Bundesatomaufseher Majer, dessen Hauptaufgabe im Bundesumweltministerium einst darin bestand, Gutachten zu prüfen, zu hinterfragen und zu bewerten, kann darüber nur den Kopf schütteln. Er hat alle 27 Unterlagen, die das Ministerium auf explizite Nachfrage nach dem angeblichen „Leck vor Bruch“-Nachweis bisher vorgelegt hat, durchgesehen. Ein „Leck vor Bruch“-Nachweis, sagt Majer, sei darin nicht enthalten. Mehr noch: Zahlreiche im kerntechnischen Regelwerk definierte Voraussetzungen für einen solchen Nachweis seien in Neckarwestheim gar nicht gegeben. Daher, schreibt Majer, könne „davon ausgegangen werden, dass der vom Betreiber an die Behörde vorgelegte und vom TÜV bewertete ‚Leck vor Bruch‘-Nachweis fehlerhaft und somit nicht belastbar ist.“
Auch sonst geht der angesehene Reaktorsicherheitsexperte mit EnBW, der einem grünen Umweltministerium unterstellten Stuttgarter Atomaufsicht und den von dieser beauftragten Gutachter*innen hart ins Gericht. So hätten letztere die einschlägigen Vorschriften des kerntechnischen Regelwerks ohne Rechtfertigung „willkürlich […] uminterpretiert“ und sich entscheidende, strittige und offenkundig unplausible Aussagen des TÜV einfach zu eigen gemacht, „ohne selbst eine entsprechende Untersuchung durchgeführt zu haben“. Der TÜV wiederum habe das kerntechnische Regelwerk nur eingeschränkt angewendet, aber nicht offengelegt, welche Einschränkungen er vorgenommen habe. Und die Behörde habe diese Einschränkung nicht weiter beachtet – auch das ein schwerer Fauxpas. „Eine bloße Übernahme von TÜV-Empfehlungen ohne eigene kritische Überprüfung entspricht nicht den Vorgaben des Atomgesetzes und der Aufgabenstellung der Aufsichtsbehörde“, kritisiert Majer.
EnBW hat Recht!
Der an erster Stelle für die Sicherheit des AKW Neckarwestheim‑2 verantwortliche, quasi-staatliche Energiekonzern EnBW kommentiert alle Vorwürfe in Bezug auf die Risse seit Jahren und bis heute mit dem Satz: „Alle Rohre waren und sind dicht.“ Das ist absolut richtig; niemand hat es je in Frage gestellt. Dass EnBW diese unstrittige Tatsache dennoch permanent als Argument ins Feld führt, nährt allerdings Zweifel, ob der Konzern die von den Rissen ausgehende Gefahr überhaupt verstanden hat.
Würden die Risse in den Dampferzeuger-Heizrohren nämlich Lecks bilden, könnte man sie zumindest theoretisch auch im laufenden Betrieb bemerken, weil durch das Leck radioaktive Stoffe in den Dampfkreislauf dringen würden, die man dort unter Umständen messen könnte. Rissige Rohre hingegen, die nicht lecken, kann man im laufenden Betrieb nicht bemerken; die Risse können folglich völlig unbemerkt weiter wachsen. Im AKW Neckarwestheim‑2 wurden schon Risse nachgewiesen, die 91–93 Prozent der Wandstärke durchdrungen hatten – ohne dass sie ein Leck verursacht hätten. Die Stabilität von in solchem Ausmaß geschädigten Rohren ist nicht mehr sicher gewährleistet. Das zeigen sowohl Berechnungen der Materialprüfungsanstalt Stuttgart im Auftrag von .ausgestrahlt als auch Berechnungen von EnBW selbst. „Alle Rohre waren und sind dicht“, wie EnBW korrekt herausstellt, belegt also gerade die Gefahr.
EnBW lasse bei der Beurteilung der vielhundertfach auftretenden Risse „unberücksichtigt, dass die Risswachstumsgeschwindigkeit bei Spannungsrisskorrosion nicht vorhersehbar ist“, moniert Majer. Dabei habe genau dies inzwischen sogar die Reaktorsicherheitskommission explizit herausgestellt. In Neckarwestheim‑2 seit somit auch weiterhin davon auszugehen, dass sich gefährlich große Risse bilden könnten. „Es ist deshalb möglich, dass ein Totalabriss […] eines Dampferzeugerheizrohres während des Betriebes ohne Vorwarnung stattfindet“, warnt Majer. Diese Gefahr ist bis heute akut.
Behörde ist verpflichtet, einzugreifen – tut aber nichts
Alle Voraussetzungen für weitere Spannungsrisskorrosion sind in Neckarwestheim‑2 weiterhin gegeben. Für Majer ist klar: Solange diese „nicht vollständig nachweislich beseitigt werden können, darf die Anlage so nicht weiter betrieben werden.“ Die Atomaufsicht in Stuttgart sei vielmehr verpflichtet, einzugreifen: „Die Behörde muss durch verwaltungsrechtliche Maßnahmen den Weiterbetrieb der sicherheitstechnisch defizitären Anlage verhindern.“ Wegen des „gefährlichen Betriebes“ sei ihr Ermessen diesbezüglich „gegen Null reduziert“. EnBW könne dann Maßnahmen vorschlagen, die Gefahr zu beseitigen, schreibt Majer. Die Behörde müsse diese prüfen – „und zwar anhand wissenschaftlich-technischer Kriterien und nicht nur aufgrund von nicht nachvollziehbaren Einschätzungen von sogenannten Experten.“
Eine Interviewanfrage des SWR zum Thema lies das grün geführte Umweltministerium in Stuttgart unbeantwortet. In einer ersten Stellungnahme nach Publikation von Majers gutachterlicher Stellungnahme teilte es dann mit, diese bringe „keinen neuen Sachstand“. Anlass, in Neckarwestheim einzugreifen, sieht es weiterhin nicht. Öffenlich beteuert die Atomaufsicht zwar, an einer schnellen Klärung der Vorwürfe interessiert zu sein. Tatsächlich spielt sie aber auf Zeit: Die von .ausgestrahlt vor vielen Wochen vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim beantragte Akteneinsicht etwa hat sie bis heute nicht gewährt.
Das Gutachten
Dipl.-Ing. Dieter Majer, Minsterialdirigent a.D., war viele Jahre lang Leiter des Bereichs Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen im Bundesumweltministerium. Er hat an Expertisen zu AKW im In- und Ausland mitgearbeitet, unter anderem zu den AKW Gundremmingen, Tihange und Doel. Seine im Auftrag von .ausgestrahlt erstellte „Gutachterliche Stellungnahme zum ‚Leck vor Bruch‘-Nachweis und zu speziellen Fragestellungen bezüglich des AKW Neckarwestheim 2 (GKN II)“ findest Du unter ausgestrahlt.de/akw-neckarwestheim
weiterlesen:
- Im roten Bereich
5.2.2021: Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt. - Im gestörten Betrieb zu bleiben, ist verboten
15.7.2020: Schon wieder neue Risse, Schadensmechanismus weiterhin aktiv – das ergaben Anfang Juli die erneuten Untersuchungen der Dampferzeuger im AKW Neckarwestheim‑2. Anzahl und Ausmaß der in nur neun Monaten neu entstandenen Schäden wollte das grün geführte Umweltministerium in Stuttgart bis Redaktionsschluss dieses Magazins nicht verraten. Klar ist aber: Der Reaktor ist durch die gefährliche Spannungsrisskorrosion, die den Primärkreislauf angreift, seit vielen Jahren beschädigt, und das ist mindestens seit 2018 bekannt. Was das bedeutet, hat Reaktorsicherheitsexperte Manfred Mertins im Auftrag von .ausgestrahlt untersucht. - Mehr Informationen in der fachlichen Stellungnahme des Reaktorsicherheitsexperten Manfred Mertins zu „Risiken betrieblich bedingter Brüche von Dampferzeuger-Heizrohre infolge von Spannungskorrosion“