Die Sicherheitsrisiken der Atomenergie bleiben enorm hoch und aus ökonomischer Sicht sind AKW nicht zukunftsträchtig, heißt es kurz vor dem 10. Jahrestag der Fukushima-Katastrophe in einer aktuellen DIW-Studie. Einen Tag später hat die französische Atomaufsicht den Weg frei gemacht, dass die alten Meiler 50 statt bisher maximal 40 Jahre lang betrieben werden dürfen.
Regelmäßig kommt es weltweit in zahlreichen Atomanlagen zu Zwischenfällen, die im Vergleich zu Fukushima oder Tschernobyl meistens glimpflich verlaufen. Je älter die Anlagen werden, desto wahrscheinlicher werden schwere Unfälle - das ist unbestritten und wird viel kritisiert. Doch auch im normalen Betrieb müssen die Kraftwerke für Wartungsarbeiten oder sicherheitsrelevante Nachrüstungen immer wieder vom Netz genommen werden. So konnte „rund ein Drittel der Kapazität aller Atomkraftwerke nicht zur Stromerzeugung genutzt werden“, bilanziert jetzt die DIW-Studie „Zehn Jahre nach Fukushima – Kernkraftwerke bleiben störanfällig und unzuverlässig“. In Frankreich, dem Land mit den meisten AKW in Europa, sei die Ausfallrate von Atommeilern sogar besonders hoch: Seit den 1970er Jahren wurden mehr als 30 Prozent der Kapazitäten nicht genutzt. Der weltweite Durchschnitt liege bei 66 Prozent Auslastung.
Viele Staaten, die derzeit aus Klimaschutzgründen auf den Ausbau oder Weiterbetrieb der Atomenergie setzen, würden die hohen Sicherheitsrisiken und die fluktuierende Fahrweise der Atomkraftwerke vernachlässigen, warnt das DIW. Wegen langer, geplanter und ungeplanter Ausfallzeiten seien Backup-Kapazitäten notwendig. „Damit ist Atomkraft als Energielieferant auch aus ökonomischer Sicht nicht zukunftsträchtig“, so Studienautor Ben Wealer.
Auch würden viele Energie- und Klimamodelle außer Acht lassen, dass die Risiken der Atomkraft seit jeher von der Gesellschaft getragen werden, „da sie bis heute in keinem Land der Welt abgesehen von eher symbolischen Haftpflichtversicherungen der Kraftwerksbetreiber versicherbar sind. Diese Aspekte sollten in der energiewirtschaftlichen Analyse aber konsequent berücksichtigt werden", fordert Energieökonomin und Studienautorin Claudia Kemfert.
Frankreich macht den Weg für Laufzeitverlängerungen frei
Genau das Gegenteil wird derzeit ausgerechnet in Frankreich praktiziert: Gestern wurde bekannt, dass die französische Atomaufsicht Autorité de sûreté nucléaire (ASN) den Weg frei gemacht hat, dass die besonders alten Meiler statt wie bisher vorgeschrieben maximal 40 bis zu 50 Jahre lang betrieben werden dürfen. Diese Laufzeitverlängerung ist allerdings an die Bedingungen und Maßnahmen geknüpft, um „die Folgen schwerer Unfälle wie etwa einer Kernschmelze zu verhindern“. Auch der Schutz vor „Angriffen auf die Anlagen“ soll verbessert werden. Davon betroffen sind mindestens acht Anlagenkomplexe und bis zu 32 Reaktorblöcke, großteils der 900-Megawatt-Baureihe. Einige Meiler wie die vier Blöcke in Bugey haben die 40 Jahre Betriebszeit bereits überschritten – und müssten ohne die Laufzeitverlängerung vom Netz gehen. Aber auch das AKW Cattenom unweit der deutschen Grenze soll deutlich länger in Betrieb bleiben.
Von einer „Kapitulation vor den Interessen der Energiewirtschaft“ spricht Greenpeace Frankreich. Wie die taz berichtet, befürchtet die Anti-Atom-Initiative „Sortir du nucléaire“, dass die von der Atomaufsicht nun vorgeschriebenen Arbeiten erst erfolgen, wenn die Reaktoren 47 oder 48 Jahre in Betrieb waren. Denn wie überall mangelt es auch in Frankreich in der Atombranche an Fachleuten, die etwa geforderte Nachrüstungen zeitnah umsetzen könnten.
Auch die deutsche Bundesregierung kritisiert die Entscheidung der französischen Atomaufsicht. Die Meiler würden über ihre „ursprüngliche Konzeptionsdauer hinaus“ betrieben werden, so Bundesumweltministerin Svenja Schulze. Die zunehmende Überalterung der europäischen Atomkraftwerke bereite ihr „große Sorge“. LINKE und Grüne protestieren gegen die Laufzeitverlängerungen: „Der hoch verschuldete staatliche Atomkonzern EDF stellt offenbar wirtschaftliche Interessen vor den Schutz der Bevölkerung“, so die Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl. Selbst wenn einige Systeme erneuert werden, „je älter die Atommeiler werden, desto störanfälliger werden sie“, meint Hubertus Zdebel von Die Linke. „Es gibt technische und wirtschaftliche Grenzen der Nachrüstbarkeit“, bekräftigt auch Schulze.
„Es gibt seit Jahren en masse Störfälle und Pannen, Cattenom ist nicht mehr fit, das war es auch noch nie, diese Hochrisikotechnologie ist nicht für so lange Laufzeiten ausgelegt und an grundsätzlichen Mängeln und Gefahren können auch technische Aufrüstungen nichts ändern“, so Markus Pflüger vom Antiatomnetz Trier. „Alle 4 AKW Blöcke entsprechen auch nach den Investitionen nicht dem heutigen Stand von Sicherheit und Technik, sie wären heute nicht mehr genehmigungsfähig und gehören stillgelegt!“
Laut Pflüger ist Cattenom besonders verletzlich im Hinblick auf Erdbeben, Flugzeugabstürze und angesichts der heißen und trockenen Sommer, weil das Ökosystem der Mosel als Kühlfluss extrem belastet wird.
Stilllegen! Cattenom liefert laufend Belege für Unsicherheit
Das Atomkraftwerk Cattenom lieferte kürzlich zahlreiche Argumente gegen eine Laufzeitverlängerung: In Block 3 gab es ein Leck in einem Ventilationssystem, das den Reaktor bei einem Störfall durch die Schaffung einer Unterdruckatmosphäre von der Außenluft abtrennen soll. Der Defekt wurde erst zwei Stunden und 25 Minuten nach Beginn eines Testlaufs entdeckt, viel zu spät, urteilt die Atomaufsicht und stufte den Störfall auf der Meldeskala in INES 1.
Ende Januar unterbrachen Techniker den sicherheitsbedingt vorgeschrieben Abschaltvorgang in Block 3. Bei Volllast des 1.300 Megawatt-Meilers waren bei Ventiltests im Notkühlsystem Fehler gefunden worden, die laut Vorschrift innerhalb einer Stunde repariert werden mussten. Diese Zeitspanne überschritten die Techniker aber wegen einer Fehleinschätzung. Der Abschaltvorgang wurde manuell unterbrochen und Block 3 blieb bei verminderter Leistung am Stromnetz. Die Atomaufsicht stufte auch dieses Ereignis in die INES-Kategorie 1.
Im Januar meldete die französische Atomaufsicht erneut Fehler bei den Notstrom-Dieselmotoren. Moniert wurden unter anderem Korrosion und eine „schlechte Montage“. Es soll sich nach Angaben der ASN um einen „generischen Fehler in zehn französischen Reaktoren, darunter auch Block 2 in Cattenom“ handeln. Bei einem Erdbeben wäre die Stromversorgung nicht gesichert. Die Atomaufsicht habe dieses Problem „schon mehrmals kritisiert und technische Nachbesserungen gefordert, zuletzt im Dezember“, berichtete Anfang Januar SWR Aktuell.
Wenn der ASN-Forderung ernsthaft nachgekommen werden soll, das Risiko von schweren Unfällen künftig auszuschließen, dann bleibt nur die sofortige Stilllegung der Atomkraftwerke!
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