Auf dem Klimakrisen-Trittbrett

12.02.2021 | Eva Stegen
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Foto: Standbild: funk / youtube

Der öffentlich-rechtliche Jugendsender „funk“ bringt bunte Werbefilmchen für längere Laufzeiten und neue AKW, die sich um Fakten wenig scheren. Eine Recherchehilfe.

Klimakrise in die Medien!“ Kaum werden diese Rufe endlich erhört, fällt ein gewichtiger Trittbrettfahrer auf, der zunehmend häufig auf dem Klimazug mitfährt: Irritierend oft bekommen Atomlobbyist*innen nun eine Bühne, um ihren mehrfach widerlegten Mythos vom nuklearen „Klimaretter“ mit großer Reichweite zu ventilieren.

„Brauchen wir Atomkraft, um den Klimawandel zu stoppen?“, fragte etwa jüngst ein Video des Formats „Kurzgesagt“, das im Auftrag des ZDF für den Jugendsender „funk“ produziert wird. In Wort und Bild suggeriert der Clip, Weiterbetrieb und Neubau von AKW seien notwendig. Der Plot gipfelt in der Warnung: „… je länger wir das nicht akzeptieren, desto härter wird der Kampf.“

Erneuerbare werden marginalisiert
Manipulativ behauptet der Film, dass wir „etwa im gleichen Tempo AKW vom Netz genommen haben wie wir Erneuerbare Energien hinzugefügt haben“. Eine grob verzerrte Darstellung, auch im Betrachtungszeitraum 2000–2019, auf den sich der Film bezieht. Die globalen Zahlen zeigen, dass die Stilllegungen der AKW, die das Ende ihrer technischen bzw. wirtschaftlichen Betriebszeit erreicht haben, durch den AKW-Zubau im selben Zeitraum gerade knapp kompensiert werden konnten: Mehr als ein Mini-Zuwachs bei der Atomstromproduktion war weltweit in 19 Jahren nicht drin (2.600 TWh -> 2.800 TWh; TWh=Terawattstunde=Milliarden Kilowattstunden). Zeitgleich legten die Erneuerbaren um 145 %  zu (2.871 TWh -> 7.028 TWh).

Um den Eindruck zu erzeugen, die ganze Energiewende sei für die Katz, lässt der Film weg, dass a) die Stromproduktion insgesamt um 73 % gestiegen ist, b) die Atomkraft seit mehr als 60 Jahren massiv gefördert wird und ihr Beitrag zum Wachstum trotzdem nur minimal ist und c) die wachstumsstarken Erneuerbaren, Photovoltaik und Windkraft, erst vor rund 20 Jahren Zugang zum Strommarkt bekamen und ihr Potenzial längst nicht ausgeschöpft haben. Viele Studien belegen, dass eine 100 %-erneuerbare Versorgung möglich ist – sowohl hier als auch weltweit. Keine davon wird im Film zitiert.

Stattdessen behaupten die Filme-macher*innen nach dem Rosinenpicker-Prinzip, „Windenergie [in Deutschland] gleicht nur die fehlende Atomkraft aus, statt Kohle zu ersetzen“. Das ist falsch. Von 2000 bis 2020 sank die Atomstromproduktion um 106 TWh. Im selben Zeitraum legte allein die Windkraft um 122 TWh zu. Dazu kamen über 90 TWh aus weiteren regenerativen Quellen. Ohne politische Bremsmanöver wäre noch deutlich mehr möglich.

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Foto: Standbild: funk / youtube

Atom-Musterschüler Frankreich?
Grob irreführend auch die Aussage: „Länder wie Frankreich haben aber gezeigt, dass es trotz der Nachteile möglich ist, Atomenergie als Teil der Lösung einzusetzen.“ Gerade dort wachsen die Probleme im alternden Kraftwerkspark. AKW fallen im Sommer aus, weil es an Kühlwasser mangelt. Der Film nennt dieses Problem aber ausschließlich im Kontext mit Wasserkraftwerken und suggeriert: „Wir scheinen also Atomenergie zu brauchen“ – grad so, als ob das Niedrigwasser der Flüsse die AKW nicht beträfe.

Auch im Winter kommt es im Muster-schüler*innen-Atomland Frankreich immer wieder zu Versorgungsengpässen. Seit 2008 fordert der französische Netzbetreiber RTE seine Kunden regelmäßig auf, die Verbrauchsspitzen zu dämpfen und Strom zu sparen – auch aktuell. Immer wieder kommt es zu großflächigen Stromausfällen, die Hunderttausende im Dunkeln lassen. Mit keinem Wort erwähnt der Film, welch große Probleme Frankreich mit seinem einzigen AKW-Neubauprojekt Flamanville und der gesamten Reaktorbausparte hat. Kein Wort darüber, dass schon das Halten des Status Quo der französischen Nuklearkapazitäten auf Kosten der Sicherheitsmargen geht und dass das Milliardengrab Atomindustrie sogar den französischen Staatshaushalt in Bedrängnis bringt. Die Stromversorgung in Frankreich ist auf Kante genäht, Atomausfälle mehren sich. Wenn im Winter französische Stromheizungen mit importiertem Kohlestrom betrieben werden, kann Atomkraft nicht „die Lösung“ der Klimakrise sein.

Atom-Musterschüler Schweden?
Als zweiter Musterschüler wird Schweden genannt. Die im Film angegebenen „fast 40 % Atomstrom“ liegen deutlich über den von der IAEA für 2019 genannten 34 %. Zwischen 2016 und 2020 hat Schweden vier Reaktoren stillgelegt – sie sind unwirtschaftlich. Von einst 13 Reaktoren sind damit sieben endgültig abgeschaltet. 2020 war das schlechteste Atom-Jahr seit 1983. Der Atomanteil der Stromproduktion lag bei 30 % (47 TWh), 2021 sinkt er stilllegungsbedingt weiter. Die Windkraft hingegen legte zu, um 40 % im letzten Jahr. Zusammen mit PV lieferte sie 18 % der Stromproduktion.

Während Schweden einen Transformationspfad beschreitet, ist Frankreich ein Beispiel für technologische Sperrhaltung: Trotz bester geographischer Bedingungen wurden hier die wesentlich günstigeren Erneuerbaren klein gehalten. Der Anteil der Windkraft liegt unter 9 %, die Solarenergie liefert kaum 3 %. Weitere Beispiele, die das Muster einer technologischen Sperrhaltung zeigen: Tschechien, Ungarn, Belgien, Slowakei, Ukraine.

Die Frage, ob Atomkraft hilft, den Klimawandel zu stoppen, haben schon viele gestellt. Gerne wurden dazu einzelne Länder gegenübergestellt, um den Beweis für die jeweils bevorzugte Hypothese zu liefern. Entweder die im Film vertretene oder die konträre, dass sich Atomkraft und Erneuerbare gegenseitig verdrängen. Eine aktuelle Studie hat diese Hypothesen systematisch, anhand von Langzeit-Datensätzen aus 123 Ländern, untersucht. Sie zeigt, dass starke nationale Atomkraft-Fixierung nicht mit signifikant geringerem CO2-Ausstoß korreliert, während dies bei regenerativ-orientierten Staaten der Fall ist. Das „funk“-Team hingegen fegte den Hinweis auf die in „Nature Energy“ veröffentliche Studie lapidar vom Tisch: Sie habe „diverses kritisches Feedback für ihre Methoden bekommen und werde daher von der Redaktion als problematisch eingeordnet.“ So würden dort „gerade Länder wie Schweden und Frankreich ignoriert, die besonders auf Atomkraft setzen.“ Das ist nachweislich falsch, sie werden weder ignoriert noch als Sonderfälle herausgestellt.

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Foto: Standbild: funk / youtube

Neue Reaktorkonzepte: die Illusion verfügbarer Lösungen
Äußerst problematisch ist die gewagte These, es gäbe „heute vielversprechende neue Konzepte“. Die sogenannten Power-Point-Reaktoren suggerieren, sie seien bereits verfügbar. Aber diese „Konzepte“ sind alles andere als neu. Der Nachweis für ihre Machbarkeit fehlt, obgleich einige davon bis in die 1940er und 1950er Jahre zurückreichen. Das Lösungspotenzial ist keineswegs so unumstritten, wie es der Film glauben machen will, und es gibt viele seriöse, kritische Stimmen, die massive Zweifel an der Realisierbarkeit dieser theoretischen Konzepte äußern. Selbst wenn junge, schöne Atommüllerstöchter in aufwändig produzierten Kinofilmen versprechen, sie könnten Atommüll zu Strom verspinnen, um kapitalstarke Investor*innen zu ködern, die bereit sind, viel Geld in den Sand zu setzen – die klassische Start-up-Strategie geht nicht immer auf. Transatomic Power etwa hat so zunächst viel Aufmerksamkeit und Geld auf sich gezogen, bevor es im September 2018 aufgeben musste, einige Monate nachdem es überzogene Angaben zu seinem „fortschrittlichen Reaktordesign“ revidiert hatte.

Mit dem milliardenschweren Klimafreund Bill Gates versucht sich bereits der siebte am Prinzip des Laufwellenreaktors seit 1958. Dazu gründete Gates 2006 das Unternehmen Terrapower. Seine Firma forscht auch an der Entwicklung eines Flüssigsalzreaktors, eine Idee aus dem Jahr 1946, die 1954 aufgegeben wurde. Wer wie im „Kurzgesagt“-Film all das ignoriert, muss sich den Vorwurf der Desinformation gefallen lassen.

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Eva Stegen

Eva Stegen engagiert sich für die Energiewende, privat als Bloggerin und beruflich als Energiereferentin der EWS Schönau. Sie ist Co-Autorin der Informationsschrift „Das Desaster der europäischen Atomwirtschaft“ Mitglied der Nuclear Consulting Group.

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