Die Atomkatastrophe von Fukushima ist auch nach zehn Jahren noch lange nicht vorbei. Was wissen wir bis heute über die gesundheitlichen Folgen des Super-GAUs? Ein Gastbeitrag von Alex Rosen (IPPNW)
Zehn Jahre ist es nun her, dass sich vor den Augen der Welt die größte Atomkatastrophe seit Tschernobyl abspielte. Ein schweres Erdbeben hatte das japanische Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi am 11. März 2011 schwer beschädigt. Der nachfolgende Tsunami begrub jede Hoffnung, dass ein Super-GAU noch abgewendet werden könnte. In den darauffolgenden Tagen kam es in drei der sechs Atomreaktoren zu Kernschmelzen. Große Mengen an radioaktiven Partikeln wurden in die Atmosphäre geschleudert, flossen ins Grundwasser, regneten und schneiten als Fallout über die gesamte Region nieder. Mehr als 200.000 Menschen mussten evakuiert werden, ganze Landstriche wurden zu verstrahlten Sperrzonen.
Nur „Glück und göttlicher Fügung“ war es zu verdanken, dass lediglich kleinere Städte und Dörfer hochgradig kontaminiert wurden, während die Millionenmetropolregion Tokio wenig radioaktiven Fallout erhielt und nicht evakuiert werden musste. Dennoch stellte der mehrfache Super-GAU von Fukushima die größte Katastrophe für Japan seit dem Zweiten Weltkrieg dar – ein nationales Trauma für das einstige Technologie-Musterland. Bis heute leben die Menschen in Japan mit der Katastrophe. Es gibt weiterhin keine Normalität, auch wenn die atomfreundliche Regierung dies mit bunten olympischen „Wiederaufbau“-Spielen zu verdecken versucht. Um aus den Lehren aus Fukushima zu lernen, muss man die Folgen genau untersuchen. Als atomkritische Ärzt*innen haben wir in den vergangenen Monaten die wissenschaftliche Fachliteratur der letzten zehn Jahre strukturiert analysiert und uns einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung verschafft. Was wissen wir heute über die gesundheitlichen Folgen des Super-GAUs von Fukushima?
Freisetzung von Radioaktivität
Mit modernsten Mess- und Modelliermethoden konnten Wissenschaftler*innen die Menge und Verteilung von freigesetzten radioaktiven Stoffen abschätzen. Die Emissionen von radioaktivem Jod, Cäsium und Strontium fielen geringer aus als in Tschernobyl und landeten dank günstiger Winde zu ca. 80 Prozent im pazifischen Ozean. Damit stellt Fukushima die schwerwiegendste radioaktive Verseuchung der Weltmeere aller Zeiten dar. Auch die Freisetzung von radioaktiven Edelgasen wie Xenon‑133 lag deutlich über der aller bislang registrierten Atomunfälle.
Bis heute setzen die havarierten Reaktoren täglich weiter Radioaktivität ins Grundwasser und in den Ozean frei. Im waldigen Bergland, das einen Großteil der Präfektur ausmacht, ist an Dekontamination nicht zu denken. Waldbrände, Pollenflug und Überschwemmungen setzen radioaktiven Niederschlag regelmäßig neu frei und verteilen ihn über die Region. Analysen von Luftfiltern und Atemmasken zeigen immer wieder Kontaminationen mit radioaktiven Cäsium-Partikeln, in bereits dekontaminierten Gegenden finden sich immer wieder radioaktive Hotspots – auf Spielplätzen, Schulhöfen, in Feldern und entlang von Straßen.
Krebserkrankungen
Eine der gefürchtetsten Spätfolgen von radioaktiver Exposition ist die Entstehung von Krebserkrankungen durch Mutation der DNA. Eine besonders früh auftretende Krebserkrankung ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Seit 2011 untersucht die Fukushima Medical University (FMU) in regelmäßigen Abständen die Schilddrüsen von Menschen in Fukushima, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs unter 18 Jahre alt waren.
Insgesamt wurden, Stand Januar 2021, bei 213 von ihnen Schilddrüsentumore festgestellt, die so aggressiv waren, dass sie operativ entfernt werden mussten. Die FMU zählt davon nur 198 – die anderen 15 Fälle hat sie aus der Studie ausgelagert. Ohnehin versucht die FMU seit Jahren, die Teilnehmer*innen dazu zu motivieren, die Studie zu verlassen. So schickt sie zum Beispiel Mitarbeiter*innen an Schulen, um dort Kinder über deren „Recht auf Nichtteilnahme“ und das „Recht auf Nichtwissen“ aufzuklären. So sind seit 2011 mehr als 100.000 Kinder aus der Studie ausgeschieden. Menschen in verstrahlten Regionen außerhalb Fukushimas wurden ohnehin nie systematisch auf Schilddrüsenkrebs untersucht. Die Dunkelziffer an nicht offiziell berichteten Fällen von Schilddrüsenkrebs dürfte somit deutlich höher liegen.
Auch argumentiert die FMU, die hohe Zahl an Schilddrüsenkrebsfällen beruhe auf einem Screening-Effekt, also dem Phänomen, dass man bei Reihenuntersuchungen mehr Krankheitsfälle identifiziert, als man normalerweise durch symptomatisch werdende Erkrankungen sehen würde. Während das genaue Ausmaß des Screeningeffekts bei der Erstuntersuchung unbekannt ist, kann ein solcher bei den 112 Krebsfällen aus den Nachuntersuchungen ausgeschlossen werden, denn all diese Kinder waren ja bereits einmal untersucht und dabei für krebsfrei befunden worden. Der Tumor muss sich also zwischen beiden Untersuchungsterminen neu entwickelt haben.
Die offizielle Neuerkrankungsrate von Schilddrüsenkrebs in Japan für Menschen unter 25 beträgt 0,59 Fälle pro 100.000 Personen und Jahr. Das bedeutet, dass unter den 218.000 Kindern aus Fukushima etwa 1,3 neue Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr zu erwarten wären, über 10 Jahre also 13 Fälle. Tatsächlich diagnostiziert wurden aber 213. Auch wenn man lediglich die screeningeffekt-freie Zeit nach der Erstuntersuchung betrachtet, ist die Zahl von 112 tatsächlich diagnostizierten Schilddrüsenkrebsfällen 20 mal höher als die 5,5 normalerweise zu erwartenden Fälle. Japans größte Schilddrüsenklinik in Tokio verzeichnete hingegen keine derartige Steigerung der Schilddrüsenkrebszahlen – ein Hinweis darauf, dass die Ursache dafür tatsächlich in Fukushima selbst zu suchen ist.
Neben den Schilddrüsenkrebsfällen ist auch mit einem Anstieg der Fallzahlen bei weiteren Krebsarten und anderen Erkrankungen zu rechnen, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Diese werden jedoch nicht systematisch untersucht und daher wohl im statistischen Grundrauschen untergehen: Da im Schnitt jeder zweite Japaner im Laufe seines Lebens irgendwann eine Krebserkrankung entwickelt, können nur systematische epidemiologische Untersuchungen Hinweise auf kausale Zusammenhänge aufzeigen.
1.139
In den weitgehend ungeschützten Lagerbecken der havarierten Reaktoren 1–3 lagen Ende November 2020 noch 1.139 hochradioaktive abgebrannte Brennelemente. Nur 434, etwas mehr als ein Viertel, konnten bisher geborgen werden. Erst 2031 sollen die Lagerbecken aller 6 Reaktoren komplett geräumt sein.
Soziale und psychologische Folgen
Nach den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki litten die Überlebenden jahrzehntelang unter Diskriminierung. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch bei den Opfern der Atomkatastrophe von Fukushima, die von vielen Japaner*innen als „verstrahlt“ angesehen werden. Zu den gesundheitlichen Folgen der Strahlung kommen also noch soziale Ächtung und die Folgen der sehr realen Angst vor der sehr realen Gefahr von strahlenbedingten Krankheiten. Groß angelegte Studien zeigen das erschreckende Ausmaß der gesellschaftlichen Ausgrenzung der sogenannten „Strahlenflüchtlinge“. Vor allem Jugendliche leiden unter Mobbing, Stigmatisierung und Vorurteilen durch ihre Altersgenossen. Auch bei der Partner*innensuche werden Menschen aus Fukushima im Rest des Landes gemieden. Hinzu kommen Zeichen von post-traumatischer Belastungsstörung wie Angstzustände und Depression bei Evakuierten, Menschen in den verstrahlten Gebieten und dort eingesetzten Arbeiter*innen. In Nachbarregionen, die genauso von Erdbeben und Tsunami betroffen waren, aber weniger vom radioaktiven Niederschlag, sind die psychologischen Belastungsfolgen mittlerweile wieder rückläufig, während sie in Fukushima anhaltend hoch bleiben. Studien konnten sogar zeigen, dass die psychologischen Folgen der Atomkatastrophe in Fukushima in Regionen mit erhöhten Ortsdosisleistungen besonders stark ausgeprägt sind.
2021
Zehn Jahre nach dem Super-GAU sollen die ersten Arbeiten zur Bergung der zerstörten Reaktorkerne beginnen: in Block 2. In den Reaktoren 1 und 3 geht es bis auf Weiteres nur darum, herauszufinden, in welchem Zustand sich der geschmolzene Brennstoff im Innern der Reaktoren überhaupt befindet.
Perinatale Folgen
Kinder reagieren bekanntlich empfindlicher auf Radioaktivität als Erwachsene. Am verwundbarsten jedoch ist der Mensch während der Embryonal- und Fötalzeit. Daher sind Untersuchungen der perinatalen Morbidität und Mortalität besonders aufschlussreich, um Folgen von Atomkatastrophen sichtbar zu machen.
Die Folgen von Erdbeben und Tsunami müssen dabei durch die geeignete Wahl von Kontrollgruppen statistisch ausgeglichen werden. Tut man dies, findet man zehn Monate nach dem Super-GAU in Regionen mit hoher Strahlenexposition eine signifikant erhöhte Perinatalsterblichkeit und ein signifikant erniedrigtes Geburtsgewicht im Vergleich zu Regionen mit niedriger Strahlenexposition.
38.658
Fast 39.000 Menschen aus der Gegend um Fukushima zählten im April 2020 noch als „Evakuierte“, durften also wegen hoher Strahlenwerte auch neun Jahre nach dem Super-GAU noch nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Die offiziell als „dekontaminiert“ und damit wieder bewohnbar deklarierten Orte in der Sperrzone sind allerdings ebenfalls noch weitgehend verwaist – weil kaum jemand dorthin zurückkehren will.
Tier- und Pflanzenwelt
Interessant für die Abschätzung von Strahlenfolgen sind auch immer Untersuchungen der Tier-und Pflanzenwelt. In Fukushima zeigten sich in den letzten zehn Jahren Abnahmen der Populationen von Vögeln, Schmetterlingen und Grillen. Bei höheren Strahlenwerten im Nest von Schwalben hatten diese weniger Nachwuchs. In Abhängigkeit der Strahlenexposition wurden zudem erhöhte genetische und morphologische Veränderungen festgestellt: So sind Schmetterlinge in Fukushima kleiner als ihre Artgenoss*innen und zeigen erhöhte Mutationsraten in der DNA, die auch an Nachkommen weiter vererbt werden.
Bei wild lebenden Affen mit erhöhten Cäsiumkonzentrationen wurden Knochenmarkdepressionen gefunden, bei Rindern Lähmungen, Blutbildveränderungen, Gangstörungen, Tumorerkrankungen und Schleimhautulzerationen.
Bei Nadelbäumen wurden dosisabhängig erhöhte Raten von DNA-Mutationen und Fehlbildungen nachgewiesen, Pollen und Samen waren weniger überlebensfähig, Wachstumsraten reduziert.
Auch in den hoch kontaminierten Küstengewässern fanden sich zahlreiche Strahlenfolgen, insbesondere in der Flora und Fauna des Wattbereichs und des Meeresbodens. Sie zeigen bis heute teilweise substanziell erhöhte Strahlenwerte und Konzentrationen von radioaktivem Cäsium, Strontium und Polonium. Würmer, Krabben und Fische, die im Sediment leben, tragen substanziell zur Anhäufung radioaktiver Stoffe in der Nahrungskette bei.
Weitere Forschung
Die Menschen in Japan werden noch viele Jahrzehnte mit den direkten Folgen des Super-GAUs von Fukushima leben müssen. Eine erste Bilanz nach zehn Jahren zeigt bedenkliche Trends und Entwicklungen, die weiterer Forschung bedürfen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Atomkatastrophe liegt im öffentlichen Interesse und darf nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden. Die Menschen in Fukushima haben es verdient, die Wahrheit zu erfahren.
weiterlesen:
- Alles zum Jahrestag der Atomkatastrophe von Fukushima
- Die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011
- Zehn Jahre danach
29.1.2021: Der Super-GAU von Fukushima brachte das japanische Atomprogramm zu Fall, die Atomkraft weltweit in Misskredit und – dank des Engangements Hunderttausender – der Energiewende in Deutschland einen Schub. Aber die Atom-Fans haben noch nicht aufgegeben. Und selbst grüne Landesregierungen nehmen die Lehre aus Fukushima nicht ernst.