Bundesregierung bestätigt massive Sicherheitsmängel

19.11.2020 | Jan Becker

In einer Antwort an die Grünen bestätigt die Bundesregierung indirekt, dass mindestens 19 Meiler in Europa faktisch illegal betrieben werden. Es gibt massive Sicherheitsmängel in zahlreichen Anlagen.

Belgien / Tihange: Menschenkette Juni 2017
Foto: publiXviewing.de
Ebenfalls betroffen: belgisches AKW Tihange

Eigentlich ist die Information nicht neu: Belgien hatte die Laufzeiten der Atomkraftwerke Doel 1 und Doel 2 im Jahr 2015 um 10 Jahre verlängert. Ende Juli 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass diese Betriebsverlängerungen illegal seien. Es haben keine grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfungen stattgefunden. Das Ausmaß an Modernisierungsarbeiten für die Sicherheit (700 Millionen Euro), sowie die Dauer der Laufzeitverlängerung würden Umweltrisiken bergen, die mit der ursprünglichen Inbetriebnahme vergleichbar seien, so der EuGH, und nach EU-Recht eine UVP vorschreiben. Geändert hat das Urteil nichts. Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten der angrenzenden Bevölkerung wurden verhindert. Die belgische Regierung argumentiert mit der Versorgungssicherheit und die Meiler sind weiter in Betrieb.

Betroffen sind aber noch viele weitere Reaktoren, heißt es vergangene Woche im Spiegel. Auf den Missstand hatte das Nachrichtenmagazin bereits im August 2019 hingewiesen. In Europa seien die Laufzeiten mehrerer Atomkraftwerke verlängert worden, ohne dass sie der vorgesehenen grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen wurden, heißt es nun auch in einer Regierungsantwort auf eine Anfrage der Grünen. Betroffen seien u.a. vier Blöcke des tschechischen AKW Dukovany und zahlreiche Reaktoren in Frankreich. Nur für zwei von 22 Atomkraftwerken (AKW Krsko, Slowenien und Zaporozhye-6, Ukraine), die in den kommenden fünf Jahren die vorgesehene Laufzeit von 40 Jahren überschreiten, ist bereits eine Umweltverträglichkeitsprüfung geplant. Für 19 Anlagen sei eine Laufzeitverlängerung erfolgt, die nicht mit der Rechtsauffassung des EuGH übereinstimmt.

Die Informationen sind nicht neu. Brisant ist, dass sie nun von der Bundesregierung offiziell bestätigt wurden.

Bundesregierung gibt sich machtlos

Dass es Sicherheitsdefizite in europäischen AKW gibt, altersbedingte Materialfehler wie etwa Rissbildungen in der Reaktorhülle, bestätigt die Regierung auch. Es läge aber „in der alleinigen Verantwortung der für ein AKW zuständigen atomrechtlichen Aufsichtsbehörde“, aus Ergebnissen von Untersuchungen „Schlussfolgerungen“ zu ziehen. „Die Bundesregierung bewertet nicht die Rechtmäßigkeit des Betriebs von AKW in anderen Mitgliedsstaaten“, heißt es in Drucksache 19/23490. Doch indirekt wird die Rechtsauffassung bestätigt. Das EuGH habe allerdings nicht darüber geurteilt, ob eine UVP vorgeschrieben sei, „wenn Modernisierungsmaßnahmen nicht stattfinden“.

Grundsätzlich wird der Willen zum Atomausstieg in Deutschland von der Regierung betont. Auch stehe man Laufzeitverlängerungen generell kritisch gegenüber und wolle die Umweltverträglichkeitsprüfungen einfordern. Im Dezember findet eine Espoo Vertragsstaatenkonferenz unter deutschem EU-Ratsvorsitz statt. Dort soll ein Leitfaden zur Anwendbarkeit der Espoo-Konvention auf Laufzeitverlängerungen zur Entscheidung vorgelegt werden. In einer Arbeitsgruppe der EU-Staaten zu dem Thema nimmt die Bundesregierung nach eigenem Bekunden „vornehmlich eine neutrale und vermittelnde Rolle“ ein. Es gebe „trotz erreichter Fortschritte“ noch „eine Reihe konfliktträchtiger Themen“.

Die große Debatte steht bevor

Weshalb es so wichtig ist, sich jetzt nicht nur sehr deutlich zu positionieren, sondern auch zu handeln, zeigt ein Blick auf die Statistik. Die größte AKW-Neubauwelle in der EU fand in den 1980er-Jahren statt, so dass in den kommenden Jahren viele Reaktoren die vorgesehenen 40 Betriebsjahre erreichen bzw. bereits überschritten haben. Viele EU-Länder argumentieren mit Klimaschutz für die Laufzeitverlängerungen - ein gefährlicher Irrtum.

Deutschland muss jetzt keine „neutrale Rolle“ einnehmen, sondern in heftige Opposition gegen die gefährlichen Laufzeitverlängerungs-Pläne unserer Nachbarstaaten gehen. Dafür braucht es auch Klarheit in den eigenen Partei-Reihen.

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Quellen (Auszug): rnd.de, idw.de, spiegel.de, dserver.bundestag.de

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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