Anfang November rollte trotz Corona-Lockdown ein Castor-Transport aus dem britischen Sellafield ins hessische Biblis – der erste Rücktransport aus den Plutonium-Fabriken im Ausland seit neun Jahren. Begleitet wurde er von einem Großaufgebot der Polizei, von Protesten und von einer Kontroverse in den (sozialen) Medien.
Dieser Blogbeitrag basiert unter anderem auf diversen Beiträgen von .ausgestrahlt auf Twitter, um mit einem grundlegenden Missverständnis aufzuräumen. Staatssekretär Jochen Flasbarth aus dem Bundesumweltministerium erklärte in diesem Kurznachrichtendienst nämlich: „Die Proteste gegen den Castortransport haben mit einer Anti-Atomkraft-Haltung nichts zu tun. Der Atomausstieg ist beschlossen - die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Atomenergienutzung beendet. Jetzt geht es darum unseren Müll zurückzunehmen“. Er war mit dieser Einstellung nicht allein. Vielmehr gab es einen kleinen Chor der ehemals und aktuell Regierenden, die ins gleiche Horn bliesen, etwa Bundesumweltministerin Svenja Schulze, Jürgen Trittin und die Umweltminister*innen von Niedersachsen und Hessen, Olaf Lies und Priska Hinz.
Die Regierung erklärt die Auseinandersetzung für beendet
Nun war es noch nie eine gute Idee, wenn Regierende einer Protestbewegung erklären wollten, ob ihr Protest (noch) Sinn macht oder nicht. Vor allem nicht, wenn sich dieser Protest gegen die aktuelle Atom-Politik eben dieser Regierung richtet. Machen wir also einen Faktencheck: Auf der gesellschaftlichen Ebene ist der Atom-Streit mitnichten beendet, denn Deutschland ist noch immer zweitgrößter Atomstromproduzent in der EU.
Das Abschalten der letzten Leistungsreaktoren ist zwar für Ende 2022 beschlossen. Dieser Beschluss allein mindert jedoch nicht die Gefahr, die von den sechs noch laufenden AKW ausgeht. Wer würde einem Freund gratulieren, der beschlossen hat, in gut zwei Jahren mit dem Rauchen aufhören zu wollen? Hinzu kommt: Die letzten Betriebsjahre jeder Atomanlage sind unter Sicherheitsgesichtspunkten besonders heikel, da sich Investitionen in Form notwendiger Reparaturmaßnahmen zunehmend weniger lohnen und somit das Risiko für die Bevölkerung steigt.
Wer schützt die Menschen in Sellafield?
Svenja Schulze erklärte gegenüber der Rheinischen Post mit Blick auf die Proteste: „Zum Atomausstieg gehört auch die Verantwortung für den Atommüll - dem kann ich mich auch als Atomkraftgegnerin nicht entziehen. Es wäre keine ethische Position zu sagen: Liebe Briten, behaltet mal unseren Müll.“ Faktencheck: Viele derjenigen, die jetzt gegen den Castor-Transport nach Biblis protestieren, haben mit ihren Aktionen in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass deutlich weniger deutscher Atommüll ins Ausland gebracht wurde, als von der Bundesregierung geplant. Alleine zwischen 2001 und 2005 wurden statt geplanter 500 Castoren nur 250 nach La Hague und Sellafield transportiert. Der Rest wurde durch Proteste verhindert. Mit ihren Aktionen hat die Anti-Atom-Bewegung somit mehr für die Anwohnenden an diesen britischen und französischen Atomanlagen getan als die Regierung.
Seit Jahrzehnten ist die Anti-Atom-Bewegung international vernetzt. Hier gibt es weder innerhalb Deutschlands noch in Europa oder weltweit eine NIMBY-Haltung. Die Menschen an anderen Standorten werden vielmehr beim Schutz vor Strahlung konsequent mitgedacht. Wenn also den Protesten von der FAZ eine „St.-Florians-Haltung“ vorgeworfen wird, so ist dies nicht mehr als die rhetorische Plattitüde, die der Anti-AKW-Bewegung als Deutungsmuster der Regierenden aktuell bei jedem Protest gegen den Umgang mit Atommüll entgegenschlägt: Ihr wollt ja nur, dass der Müll ins Ausland kommt (oder hier: dort bleibt).
Umstritten ist, wann und wohin
Es ist jedoch vollkommen unstrittig, dass der Atommüll zurückgenommen werden muss. Aus einer moralisch-ethischen Verantwortung heraus ist es selbstverständlich, dass sich Deutschland um die bestmögliche Lagerung des in der Bundesrepublik entstandenen Atommülls kümmern muss. Umstritten war und ist somit nicht, ob der Atommüll aus Sellafield zurückgenommen werden soll, sondern wann dies geschehen soll und wohin dieser Atommüll verbracht werden soll.
Das Zwischenlager in Biblis ist als Ort denkbar ungeeignet. Wenn einer dieser Castor-Behälter in den kommenden Jahrzehnten in der Halle in Biblis undicht wird, so könnte er zwar notdürftig repariert werden, wäre dann aber, anders als die dort bereits gelagerten anderen Behälter nicht mehr transportfähig. Eine Möglichkeit für eine umfassende Reparatur vor Ort in Form einer sogenannten „Heißen Zelle“ gibt es jedoch nicht. Die Anti-AKW-Bewegung hat in all den Jahren immer gegen eine unsichere Lagerung von Atommüll protestiert und Widerstand geleistet. Ohne diesen langandauernden Widerstand gäbe es heute beispielsweise ein völlig ungeeignetes Endlager in Gorleben! Die Forderung ist somit schlicht: möglichst sichere Lagerorte für den Atommüll – und dies auch bei der Zwischenlagerung.
11.000 Polizist*innen trotz Lockdown
Kommen wir nun zum Zeitpunkt des Transports: Die von der Bundesregierung immer wieder benannten bindenden völkerrechtlichen Verträge haben diese Regierung nicht davon abgehalten, in den letzten neun Jahren keinen einzigen Castor-Behälter aus dem Ausland zurückzunehmen. Dafür gab es immer wieder mehr oder weniger gute Gründe. Deswegen taugt ein Verweis auf die Verträge in Zeiten einer Pandemie, in der es gilt, Kontakte zu minimieren, nun wirklich nicht als Argument. Die Gewerkschaft der Polizei fand es zu Recht unverantwortlich, mehr als 11.000 Polizist*innen dem Risiko einer Infektion mit Corona auszusetzen.
Joachim Wille schrieb treffend in einem Kommentar der Frankfurter Rundschau: „Nicht einzusehen ist, warum die strahlende Fuhre ausgerechnet jetzt, just zu Beginn des neuen Corona-Lockdowns, durchgezogen werden muss. Im Frühjahr hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer den damals bereits geplanten Transport mit der Begründung abgesagt, er sei unter solchen Bedingungen zu gefährlich. Nun soll das, bei noch höheren Infektionszahlen, nicht mehr gelten? Die politisch Verantwortlichen hätten hier bei den Briten garantiert einen Aufschub erreichen können.“
Protest gegen vermeidbare Risiken
Nicht nur für die sich um die eigene Existenz sorgende Gastronomie und Hotelbranche war der Zeitpunkt des Transports am ersten Tag der erneuten deutlichen Kontaktbeschränkungen schlicht zynisch. Joachim Wille weiter: „So drängt sich der Verdacht auf: Es kommt ihnen sogar ganz gelegen, wenn die Proteste - ebenfalls coronabedingt - eher schwach ausfallen. Noch ein Grund für Verdruss.“
Protest gegen Atommülltransporte richtet sich somit gegen vermeidbare Risiken. Aus diesem Grund fordert übrigens in der Republik Freies Wendland auch niemand, dass der Atommüll aus deutschen AKW, der in Gorleben lagert, von den Absendern zurückgenommen werden soll, obwohl er dort in einer unsicheren Halle steht. So sieht Verantwortung aus.
„Die reflexartig arrangierten Mahnwachen und Kletteraktionen wirken seltsam aus der Zeit gefallen.“ meinte Alexander Budde im Deutschlandfunk zu den Aktionen gegen den Castor. Doch der Protest ist weder Reflex noch Ritual. Letztlich denken diejenigen, die jetzt versuchen, die Aktionen gegen den Castor-Transport zu delegitimieren, zu kurz. Für sie war der Streit um den Castor immer ein Streit ums große Ganze. Da ist ja auch was dran. Aber auch wenn es beim Konflikt um die Atomkraft und um Gorleben große Fortschritte gibt, ist längst nicht alles eitel Sonnenschein. Und deshalb ist es gut, wenn es weiter Menschen gibt, die den Protest auf die Straße tragen.