Der erste Zwischenbericht zur Standortsuche für ein tiefengeologisches Atommüll-Lager verklärt mehr, als dass er erhellt. Denn über viele Gebiete, die er ausweist, ist so gut wie nichts bekannt. Und sie sind so zahlreich, dass niemand sich betroffen fühlt – selbst dort nicht, wo es dringend angebracht wäre
„Keiner hat damit gerechnet, dass derart viele Regionen übrig bleiben würden.“ Das sagt der Präsident des Atommüll-Bundesamtes (BaSE), Wolfram König, im Interview mit der Süddeutschen Zeitung zu der Tatsache, dass die „Bundesgesellschaft für Endlagerung“ (BGE) 54 Prozent des Bundesgebietes als „Teilgebiete“ ausgewiesen hat. Das sind laut Standortauswahlgesetz Regionen, die „günstige geologische Voraussetzungen für die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle erwarten lässt“.
In diesen 54 Prozent stecken zwei gewollte Botschaften. Die erste fasste BGE-Geschäftsführer Steffen Kanitz bei der Präsentation des Zwischenberichts so zusammen: „Deutschland eignet sich aufgrund seiner flächenhaften Ausbreitung von Wirtsgesteinen gut für die dauerhafte und sichere Endlagerung hochradioaktiver Abfallstoffe.“ Die Wirkung der zweiten beschreibt Wolfram König: „Der große Anteil führt auch dazu, dass bei vielen der Eindruck existiert: Es wird uns schon nicht treffen.“ Kurz zusammengefasst: Das Atommüll-Problem ist lösbar und niemand ist davon betroffen.
Karte der Illusion
Wie kam diese Landkarte zustande? Erwartet die BGE tatsächlich in mehr als der Hälfte des Landes günstige geologische Voraussetzungen für ein Atommüll-Bergwerk? Dazu ein kurzer Blick in den Verfahrensablauf:
- Zuerst hat die Bundesgesellschaft Gebiete ausgeschlossen, in denen etwa durch Vulkanismus, Erdbebengefahr oder alten Bergbau bekanntermaßen schlechte Bedingungen herrschen.
- Als nächstes mussten Mindestanforderungen, etwa bezüglich der Ausdehnung und Tiefenlage des Gesteins, erfüllt sein.
- Zuletzt sollte anhand von elf geowissenschaftlichen Abwägungskriterien, die im Gesetz festgelegt sind, bewertet werden, „ob in einem Gebiet eine günstige geologische Gesamtsituation vorliegt“.
Zur Ermittlung der „Teilgebiete“ wurden ausschließlich bereits vorhandene Geo-Daten verwendet, etwa aus der Suche nach Ölvorkommen. Für weite Teile des Bundesgebietes liegen aber gar keine Bohrdaten vor.
Schon zur Anwendung der Mindestanforderungen musste die BGE daher weitflächig auf 3D-Modelle des Untergrunds zurückgreifen, erstellt durch die geologischen Landesämter, allerdings nur für 65 Prozent des Bundesgebietes. Diese Modelle sind keine tatsächliche Abbildung des geologischen Untergrundes (siehe auch Interview „Was geologisch wirklich zu erwarten ist, geben Karte und Bericht nicht her“). Laut BGE bestehen sie teilweise nur aus „fachlich begründeten Vermutungen erfahrener Geologen“. Selbst die Qualität der Daten, die in die Modelle eingeflossen sind, ist der BGE nach eigener Aussage nicht bekannt.
Auch die geowissenschaftlichen Abwägungskriterien musste die BGE weitgehend ohne Daten vornehmen. Die Lücke schloss sie mit Hilfe sogenannter „Referenzdatensätze“. Man habe dafür „bekannte sehr günstige Eigenschaften für das jeweilige Wirtsgestein zugrunde gelegt“, also Daten, „die ein ideales Wirtsgestein beschreiben“.
Um die Dimension des Illusionsmanövers deutlich zu machen: Von den elf Abwägungskriterien wurden, je nach Gesteinstyp, zwischen sieben und neun lediglich anhand von „Referenzdaten“ bewertet, die von idealen Bedingungen ausgehen – ohne dass bekannt ist, wie es am jeweiligen Ort tatsächlich aussieht. Nur so sind beispielsweise die riesigen Teilgebiete aus Ton in Norddeutschland und Granit in Süddeutschland zu erklären, die sich gleich über mehrere Bundesländer erstrecken. Die BGE weiß nicht, ob und wo diese gute Bedingungen aufweisen und wo nicht. Sie definiert aber einfach mal, dass das Gestein optimale Eigenschaften hat.
Das Gesetz verlangt, zwischen Regionen, über die konkret bekannt ist, dass sie relativ gute geologische Eigenschaften haben, und Regionen, über die so gut wie nichts bekannt ist, zu unterscheiden. Die BGE hingegen rührt beide Kategorien zusammen und vernebelt so mehr als sie erhellt.
Besonders deutlich werden die Folgen dieser Nebelwerferei in Norddeutschland. Über die dortigen Salzstöcke etwa liegen verhältnismäßig viele Geo-Daten vor. Auf dieser Grundlage hat die BGE sie schon kräftig ausgesiebt: Nur noch 60 von mehr als 400 untersuchten sind noch im Topf. Auf der Karte liegen diese grünen Punkte in einem großen, blau-magenta-violett markierten Gebiet – den norddeutschen Tonvorkommen. Über diese liegen eher wenige Daten vor, weshalb die BGE sie einfach komplett markiert hat. Die Wahrscheinlichkeit der grünen Flecken, am Ende als Atommüll-Standort ausgewählt zu werden, ist deutlich größer als die von Orten im blau-magenta-violetten Gebiet. Insbesondere die Betroffenen an den grünen Standorten sollten sich also dringend mit der Materie beschäftigen. Anhand des Zwischenberichts und der Karte der BGE kann das aber niemand erkennen.
Verfängt zudem die vereinfachte Botschaft, dass quasi halb Deutschland geeignet sei, dann wird es für die Standorte, die im nächsten Schritt in die engere Wahl kommen, auch noch extrem schwer, zu vermitteln, warum sie ungeeignet sind – selbst wenn es stimmt.
Der Bericht enthält aber noch eine dritte Botschaft. Sie ergibt sich aus dem frühzeitigen Ausschluss des Standortes Gorleben aus dem Verfahren (siehe Gorleben lebt). Bisher bestand der begründete Verdacht, dass die neue Suche nur ein Vorwand ist, um am Ende doch wieder in Gorleben zu landen. Diesen Verdacht hat die BGE jetzt ausgeräumt. So soll gerade dem kritischen Teil der Öffentlichkeit vermittelt werden: Ihr könnt diesem Suchprozess vertrauen.
Und ja: Es ist gut, dass sich bei der BGE nicht diejenigen durchgesetzt haben, die weiter auf Gorleben zuarbeiten wollten. Denn mit den vagen Kriterien des Gesetzes hätten sie und die Politik sich diesen Standort auch mit aller Gewalt zurechtbiegen können – trotz aller geologischer Mängel. Das Aus für Gorleben heilt aber nicht alle anderen schweren Mängel des Verfahrens. Deshalb wäre es blauäugig, nun darauf zu vertrauen, dass im Weiteren alles mit rechten Dingen zugeht.
Dass die Strategie der 54 Prozent funktioniert, um Betroffenheit zu verhinderen, zeigte die Auftaktveranstaltung der „Fachkonferenz Teilgebiete“ am 17./18. Oktober. An der Online-Veranstaltung nahmen maximal 500, teilweise nur 300 Personen teil, plus etwa 100 Zuschauer*innen über den YouTube-Stream. Und dies, obwohl die Behörde mit einer gigantischen, fünf Millionen Euro teuren bundesweiten Werbekampagne für die Teilnahme getrommelt hatte.
Mischung aus Desaster, Realsatire und Geologie-Webinar
Wenn man von den 500 noch die Mitarbeiter*innen von Behörden und BGE, Politiker*innen, Presse und andere aus beruflichen Gründen teilnehmende abzieht (die Zahlen der „Profi-Teilnehmenden“ werden vom Atommüll-Bundesamt trotz mehrmaliger Nachfrage bisher geheim gehalten), bleiben nicht viele übrig, die als direkt Betroffene mit dabei waren. 291 der 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte gehören zu Teilgebieten. Die waren längst nicht alle vertreten.
Wer dennoch teilnahm, den platzierte das Bundesamt am virtuellen Katzentisch. Ganze 15 Minuten von sieben Stunden entfielen am ersten Tag, an dem die BGE den Zwischenbericht vorstellte, auf Fragen der Teilnehmenden. Das Wort bekamen sie auch dabei nicht erteilt: Stattdessen fasste die Moderation viele Fragen in eigenen Worten zusammen, der Sinn ging mitunter verloren. Eine Kommunikation der Teilnehmenden untereinander unterband die Behörde gleich ganz. Falschaussagen der BGE, etwa zur angeblichen Transparenz der Geo-Daten (die es weiterhin nicht gibt, siehe auch Interview „Was geologisch wirklich zu erwarten ist, geben Karte und Bericht nicht her“), blieben so unwidersprochen stehen.
Die Vorträge der BGE-Geolog*innen waren für Zuschauer*innen, die noch nicht tief im Thema waren, durchaus informativ, zumindest wenn sie fachlich folgen konnten. Das entscheidende Thema, die Anwendung der geologischen Abwägungskriterien, kam allerdings erst am Ende eines langen Konferenztages überhaupt zur Sprache. Auch dafür hatte das Bundesamt gesorgt, weil es die Vorstellung des Berichts in einen Tag zwängte. Eine zweite geologische Meinung, also kritische Expert*innen, die aus ihrer Sicht den Zwischenbericht bewerteten, fehlte vollständig.
Dafür rief die Moderation am zweiten Tag und ohne Rücksicht auf die wachsende Empörung der Teilnehmenden auf einmal unangekündigt Abstimmungen und sogar Wahlen aus. Teilweise gab es nicht einmal die Möglichkeit, Alternativen vorzuschlagen oder zu diskutieren. Personen, die sich im Online-Tool schriftlich gegen eine Wahl ausgesprochen hatten, wurden als Kandidat*innen aufgestellt, ohne sich dagegen wehren zu können. Das Bundesamt hatte im Vorhinein extra angekündigt, dass es bei der Veranstaltung keine Entscheidungen geben solle.
Sämtliche Äußerungen der Teilnehmenden wurden im Übrigen nicht auf dem Stream übertragen. Auch wer im Nachhinein verfolgen möchte, was bei der Veranstaltung gelaufen ist, wird auf den Video-Aufzeichnungen bei YouTube nur die Vorträge von BGE, BaSE, NBG und Ministerin finden – aber keine Statements derjenigen, die hier doch angeblich das Recht auf Selbstorganisation hatten …
Diese Mischung aus Desaster, Realsatire und Geologie-Webinar hatte der „Tagesspiegel“ im Vorfeld so angekündigt: „Am Wochenende sollen die Ergebnisse des Berichts auf der Fachkonferenz Teilgebiete erstmals mit einer breiteren Öffentlichkeit, Vertretern aus Politik und Wissenschaft, der Kommunen und gesellschaftlichen Gruppen diskutiert werden.“ Auch hier also, wie beim Teilgebiete-Bericht, eine irreführende Botschaft an die breite Öffentlichkeit: Angeblich, soll diese glauben, läuft da eine umfassende Beteiligung der Bürger*innen. Von den tatsächlichen Abläufen bekommt sie ja nichts mit. Das gesamte Öffentlichkeitskonzept von Bundesamt und BGE zielt darauf ab, mögliche Konflikte und Proteste ohne tatsächliche Beteiligung von Bevölkerung und Betroffenen abzufedern und einzudämmen, statt sie kon-struktiv auszutragen und zu klären.
Wie geht es weiter?
Die „Fachkonferenz Teilgebiete“ soll in drei Sitzungen bis Juni 2021 den Zwischenbericht diskutieren, eine Stellungnahme abgeben und sich danach auflösen. Diese Diskussion kann nur sehr oberflächlich funktionieren, da ein Großteil der Datengrundlage geheim ist, über viele Teilgebiete wenig bekannt ist und es kein Geld für unabhängige Expertise gibt, die die Konferenz hinzuziehen könnte. So ist das postulierte „lernende Verfahren“ nicht möglich. Zudem will das Atommüll-Bundesamt durch strenge Begrenzung des Beratungsgegenstands verhinderen, dass die Konferenz die Grundlagen des Suchverfahrenes noch einmal diskutiert.
Währenddessen arbeitet die BGE längst weiter – und wartet nicht auf das Ergebnis der ganzen Konferenz. Und sie wird sich dabei erneut nicht über die Schulter schauen lassen, sondern erst wieder in zwei bis vier Jahren ein nächstes Zwischenergebnis präsentieren.
Bis dahin muss sie aus 54 Prozent des Bundesgebietes, den sogenannten Teilgebieten, weniger als fünf Prozent machen: ein Vorschlag für wenige „Standortregionen“. Dies passiert weitgehend nur auf der vorhandenen dünnen Datenbasis von heute. Vorgesehen sind „vorläufige Sicherheitsuntersuchungen“, vereinfacht ausgedrückt: Modellrechnungen mit unzähligen konstruierten Annahmen, die einen Anhaltspunkt dafür liefern sollen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wie viel Radioaktivität aus dem tiefengeologischen Lager entweicht. Wie es so gelingen soll, aus riesigen Gebieten, über deren Untergrund viel zu wenig Konkretes bekannt ist, wenige Favoriten zu finden, ohne Gefahr zu laufen, die falschen Regionen auszuschließen, bleibt ein Rätsel.
Die BGE könnte daher versucht sein, schon jetzt die planungswissenschaftlichen Kriterien (etwa Abstand zur Wohnbebauung, Kulturdenkmäler, Naturschutzgebiete) anzuwenden, die eigentlich nachrangig zur Geologie sein sollen. So könnte der am wenigsten schlechte Standort für ein geologisches Tiefenlager unentdeckt bleiben, weil er unter einem Kulturdenkmal liegt.
Der BGE-Vorschlag für die „Standortregionen“ geht am Ende an den Bundestag. Dieser ist komplett frei darin, die Liste nach seinen Vorstellungen zu ändern. Nach dem Beschluss des Parlaments wird es in diesen wenigen Regionen dann Probebohrungen und seismische Messungen geben – um mehr über den Untergrund zu erfahren. Alle anderen werden nicht mehr näher betrachtet.
weiterlesen:
- Gorleben lebt
5.11.2020: Das jahrzehntelange, beharrliche Engagement Zehntausender Atomkraftgegner*innen bringt das geplante Atommüll-Lager im maroden Salzstock Gorleben zu Fall. Die Entscheidung korrigiert einen alten, eklatanten Fehler. Die des neuen Suchverfahrens aber bleiben. - weiterführende Informationen im Infoportal Standortsuche
- Ist Deine Region betroffen? Karte "Potentielle Standorte"
- Fragen und Antworten - Die wichtigsten Fragen und Antworten zur langfristigen Lagerung von hochradioaktivem Atommüll.