Replik auf den Gastbeitrag zum Atomausstieg in der ZEIT von Dr. Rainer Moormann und Dr. Anna Veronika Wendland
Es ist ein Kennzeichen guter Wissenschaft, unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse Entscheidungen der Vergangenheit auf den Prüfstand zu stellen. Es gibt jedoch Diskurse, die so umfassend abgeschlossen wurden, dass man sie nicht alle paar Jahre wieder führen muss.
Ende 2022 wird in Deutschland der letzte Atomreaktor vom Netz genommen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung nun den Ausstieg aus der Kohleverstromung beschlossen. Leider viel zu zögerlich, denn es braucht zügige Maßnahmen, um zumindest die schlimmsten Szenarien der Klimakatastrophe noch aufhalten zu können. Die Wucht, mit der sich unser Ökosystem in den kommenden Jahren verändern wird, ist selbst für sonst nüchterne Wissenschaftler beängstigend. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Atomindustrie erneut nach einem Ausstieg aus dem Ausstieg ruft. Nun da Wind- und Solarkraft die Kilowattstunde deutlich günstiger produzieren können als Atommeiler und das alte Kostenargument nicht mehr zieht, muss plötzlich das Klima als Begründung herhalten.
Der deutsche Atomausstieg hat einen jahrzehntelangen gesellschaftlichen Großkonflikt befriedet. Um diesen Konsens in Frage zu stellen, bedürfte es wesentlicher neuer Erkenntnisse. Doch die gibt es nicht. Es existieren keine belastbaren Studien, die zeigen, dass sich ein Festhalten an der Atomenergie für Klima und Umwelt lohnen würde. Atomenergie ist nicht skalierbar und weiterhin ein exklusives Projekt weniger Staaten. Nur rund 5% der weltweiten Energieproduktion wird durch Atomkraft gedeckt. 85% aller Staaten haben weder Atomenergie noch die finanziellen oder technischen Voraussetzungen dafür. Für eine globale Energiestrategie ist sie daher völlig ungeeignet. Zudem ist Atomstromein unflexibler Grundlastträger, der den Ausbau der Erneuerbaren und flexibler Spitzenlastträger blockiert und verzögert. Weitere Verzögerungen können wir uns jedoch nicht leisten. Die Weltgemeinschaft hat Jahrzehnte durch Untätigkeit und falsche Anreize vertan.
Ernsthaft eine Rückkehr zur Atomenergie zu fordern kann nur, wer alle anderen Aspekte der nuklearen Kette ausblendet: Die massive Umweltzerstörung, die strahlenden Müllhalden und die eklatanten Menschenrechtsverletzungen durch den Raubbau von Uran in den Siedlungsgebieten indigener Völker. Über einen Zeitraum von 32 Jahren kam es drei Mal zu Atomkatastrophen mit Kernschmelzen, hunderte kleinere Atomkatastrophen haben riesige Landstriche radioaktiv verseucht und die Kernspaltung ist seit Fukushima nicht beherrschbarer geworden. Tonnenweise fällt radioaktiver Müll an, der für Hunderttausende von Jahren Strahlung produziert und dessen Sicherung und Lagerung noch viele künftige Generationen beschäftigen werden.
Wer Atomenergie befürwortet, verschließt zudem die Augen vor der Proliferationsgefahr. Während die USA und die UdSSR Atomreaktoren noch ausschließlich zur Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial nutzten, erhitzten die Briten 1956 als erste mit der Abwärme ihrer Plutoniumbrüter Wasser und produzierten Strom. Die neue Werbestrategie hieß „Atoms for Peace“. Dabei investierten vor allem Staaten in Atomenergie, die sich die Option auf die Bombe offen halten wollten. In den kommenden Jahrzehnten entwickelten sieben weitere Staaten mit Hilfe ziviler Atomenergieprogramme Atomwaffen. Andere könnten folgen: Gerade im Nahen Osten werden zivile Atomprogramme ausgebaut.
Investitionen in die zivile atomare Infrastruktur sind auch in den Atomstaaten nichts weiter als versteckte Subventionen der militärischen Atomprogramme, wie der Bau neuer Reaktoren in Frankreich oder Großbritannien zeigt, wo das Militär massiv von der Forschung, Entwicklung und Ausbildung im zivilen Atomsektor profitieren. Auch China, die USA und Russland investieren kräftig: Ohne das zivile Rückgrat der Atomindustrie wäre eine Modernisierung der Atomwaffenarsenale nicht denkbar. Wer diese Fakten anerkennt, stellt fest, dass die globalen energiepolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ebenso wenig mit der Atomtechnologie des 20. Jahrhunderts gelöst werden können wie mit den fossilen Brennstoffen des 19. Jahrhunderts.
Befürworter der Atomenergie zeichnen gerne das Bild von ausgehenden Lichtern, sobald Reaktoren abgeschaltet werden. Dieses Szenario ist heute ebenso falsch wie 2011 als die Atomindustrie vor dem Abschalten der Meiler warnte. Auch zukünftig werden keine Lichter ausgehen – vorausgesetzt, die Blockade der Energiewende wird endlich beendet. Denn es ist bei weitem nicht so, dass Deutschland sich in den letzten 10 Jahren auf den Ausbau von Erneuerbaren Energien konzentriert hat. Einzelne Kommunen, Firmen und private Haushalte haben dies getan. Die deutsche Politik hat die Energiewende jedoch seit 2011 ganz im Sinne der Großkonzerne konsequent ausgebremst.
Wer behauptet, dass es für ein Land wie Deutschland nur die Alternative zwischen fossiler und atomarer Stromerzeugung gäbe, ignoriert die Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des Fraunhofer Instituts, der Scientists for Future oder der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und die realen Marktentwicklungen. Sie zeigen, dass ein Szenario mit 100% Erneuerbare Energien mit entsprechenden Gesetzesänderungen in den kommenden Jahren umgesetzt werden könnte. Durch eine solche dezentrale, nachhaltige Energiewirtschaft könnten Konflikte um Rohstoffe ebenso vermieden werden wie Abhängigkeiten von Uran-, Gas- oder Öl-liefernden Staaten.
Die meiste Zeit des Jahres steht ausreichend Strom aus Sonnen- und Windenergie bereit, während an wenigen Tagen im Jahr zu wenig Erneuerbare Energien verfügbar sind. Die Lösung für dieses Problem sind der europaweite Netzausbau, um Erzeugung und Nachfrage besser in Einklang zu bringen und die möglichst effiziente und flexible Speicherung überschüssiger Energie. Hier gibt es zweifelsohne noch große Defizite. Seriöse Schätzungen gehen für ein Stromnetz mit 100% Erneuerbaren Energien von benötigten Speicherkapazitäten aus, die um einen Faktor 1.000 über dem heutigen Stand liegen.
Aber es gibt Hoffnung, dieses Niveau zu erreichen, denn neben klassischen Pumpspeicherkraftwerken oder neuartigen Kugelpump- oder Flüssigsalzspeichern gibt es vor allem zwei vielversprechende Speicherkonzepte: Für die kurzfristige Speicherung bieten sich elektrochemische Batteriesysteme an. Weltweit werden derzeit riesige Batteriefabriken errichtet. Die dort gefertigten Speicher kommen dezentral in Firmen, öffentlichen Gebäuden und Privathaushalten zum Einsatz. Durch Kopplung mit Photovoltaikanlagen könnten so bis zu 80% des privaten Strombedarfs gedeckt werden. In Kombination mit Wärmepumpen und Elektrofahrzeugen können sie zudem CO2 im Wärme- und Verkehrssektor einsparen. Solche Batteriesysteme werden von Jahr zu Jahr besser und billiger. Allein in den letzten acht Jahren sind die Preise für Lithium-Ionen-Batterien um 85% gesunken und der Trend hält an.
Für die saisonale Energiespeicherung eignen sich dagegen Power-to-Gas-Ansätze. Energieüberschüsse aus Wind- und Solarkraft können zu Wasserstoff und Methan umgewandelt, im bereits existierenden Gasnetz gespeichert und in Gaskraftwerken wieder verstromt werden. Auf diesem Weg könnten auch der Flug- und Schifffahrtsverkehr sowie die Großindustrie vollständig dekarbonisiert werden. Power-to-Gas ist technisch bereits machbar und wird im Moment schon angewandt. Aufgrund der bislang schwachen Effizienz des Elektrolyseprozesses sowie des günstigen Erdgaspreises ist die synthetische Gaserzeugung jedoch noch nicht wirtschaftlich. Ein CO2-Preis auf fossile Energien, sinkende Produktionskosten von Ökostrom und eine progressive Gesetzgebung werden diesen Technologien zum Durchbruch verhelfen.
Die Befürchtung, dass Speichertechnologien nicht schnell genug entwickelt werden können, unterschätzt das Innovationspotential der Ingenieure und die Bereitschaft der Bevölkerung, die Energiewende umzusetzen. Wer heute behauptet, dass es nicht möglich sei, in wenigen Jahren die notwendigen Speichertechnologien aufzubauen, der konnte sich sicherlich in den 90er Jahren auch nicht vorstellen, dass einmal eine ganze Bibliothek auf einen Datenträger von der Größe einer Streichholzschachtel passen würde oder ein tragbares Telefon mehr Rechnerleistung haben könnte als die NASA-Computer, die die Mondlandung steuerten.
Wir brauchen keinen Ausstieg aus dem Ausstieg, sondern eine Änderung der politischen Rahmenbedingungen, Maßnahmen zum Einsparen von Energie, eine konsequente Förderung von Energieeffizienzmaßnahmen, den raschen Ausbau der Erneuerbaren Energien und europäische Netzkooperationsprojekte. Technologien für das Speichern von Energie, intelligentes Lastenmanagement im Stromnetz sowie die Sektorenkopplung müssen erforscht, kurzfristig zur Marktreife gebracht und ausgebaut werden. Beenden wir endlich die Blockade der Energiewende. Anstelle von Großkraftwerken in der Hand einiger weniger Großkonzerne bedarf es einer dezentralen Energiewende mit 100% Erneuerbaren Energien – in Bürgerhand, auf der Basis eines gesamtgesellschaftlichen Umdenkens mit Blick auf die limitierten Ressourcen unseres Planeten.
Dieser Text sollte als Replik auf den Gastbeitrag von Dr. Rainer Moormann und Dr. Anna Veronika Wendland in der ZEIT-Rubrik Streit vom 16. Juli 2020 veröffentlicht werden. Nach anfänglicher Zusage hat die ZEIT eine Veröffentlichung jedoch abgelehnt und den Pro-Atom-Artikel in ihrer Zeitung unerwidert gelassen.