Atom-Fans in der EU versuchen, Atomkraft Zugang zu günstigen Krediten und Fördertöpfen zu verschaffen. Atomkritische Staaten halten dagegen. Heraus kommen bisweilen Kompromissformeln, die den Streit weiter vertagen.
Seit mehr als zehn Jahren arbeiten AtomFans darauf hin, Atomkraft als „grüne“ Technologie zu verkaufen und mit entsprechenden Privilegien zu versehen. Bei mehreren Anlässen ist darüber nun an unterschiedlichen Stellen innerhalb der EU und ihrer Institutionen Streit ausgebrochen.
EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzprodukte
In einer sogenannten „Taxonomie“ will die EU festlegen, welche wirtschaftlichen Aktivitäten als „nachhaltig“ gelten und unter welchen Bedingungen sich Finanzanlagen, die Geld für solche Aktivitäten zur Verfügung stellen, als „nachhaltig“ bezeichnen dürfen.
Die Frage ist sowohl symbolisch als auch praktisch von erheblicher Relevanz. Nicht nur, dass ein solches Label, noch dazu ausgestellt durch die EU selbst, Atomkraft weltweit adeln würde. Auch für die Finanzierung von Atomprojekten könnte sie entscheidende Vorteile bringen. Auf den Finanzmärkten gibt es eine stark steigende Nachfrage nach „nachhaltigen“ Geldanlagen. Die Atomindustrie hingegen hat seit Langem immense Probleme, an Geld zu kommen. Schon seit geraumer Zeit finanziert weltweit keine private Bank mehr AKW-Neubauten. Denn die nüchterne Einschätzung der Analyst*innen lautet: Atomkraft ist – jedenfalls unter marktwirtschaftlichen Bedingungen – ökonomisch absolut unattraktiv.
Erstens erfordert schon der Bau nur eines einzigen AKW ein Investment in Milliardenhöhe; diese Konzentration allein bringt für Investoren schon ein gewisses Risiko mit sich. Zweitens sind alle neuen Reaktormodelle nochmal teurer als ihre Vorgänger. Denn anders als bei den allermeisten anderen Techniken gibt es im Atombereich keine Kostendegression im Laufe der Jahrzehnte. Grund dafür sind die Sicherheitsanforderungen an die AKW, die sich immer wieder aufs Neue als unzureichend herausstellen, weswegen immer weitere kostspielige Sicherheitssysteme hinzukommen. Drittens, das jedenfalls ist die Erfahrung fast aller aktuellen AKW-Projekte, steigen die Kosten während des Baus zum Teil auf ein Vielfaches der ursprüglich kalkulierten Summen an, siehe etwa die EPR-Baustellen in Olkiluoto und Flamanville. Viertens schließlich ist äußert unwahrscheinlich, dass Atomkraftwerke ihre Kosten in Zukunft noch durch ihren Stromverkauf wieder einspielen können. Denn in einem System mit hohen Anteilen erneuerbarer Energien, die allesamt billiger Strom produzieren können, bleiben konventionellen Kraftwerken nur noch die Stunden im Jahr, in denen wetterbedingt nicht genügend Ökostrom im Angebot ist. Zu diesen Zeiten konkurrieren sie dann allerdings noch mit Speichern, deren Kosten deutlich sinken und weiter sinken werden.
Würde Atomkraft künftig als „nachhaltig“ gewertet, sozusagen auf einer Stufe mit den erneuerbaren Energien, wäre das ein gewaltiger Vorteil für die Branche. Nicht von ungefähr versucht sie seit mehr als zehn Jahren, genau eine solche Einstufung durchzusetzen. Bei den Verhandlungen über die EU-Taxonomie sprang ihr jetzt unter anderem die französische Regierung zu Hilfe. Der staatliche Atomkonzern EdF/Framatome betreibt mehr als 50 AKW und will auch weitere bauen und verkaufen. Frankreich setzte zunächst durch, dass Atomkraft nicht explizit vom „Nachhaltigkeits“-Label ausgeschlossen wird. Stattdessen solle sie unter bestimmten Bedingungen zumindest als eingeschränkt nachhaltig gelten können.
EU-Kommission und EU-Parlament formulierten daraufhin in jedem Fall anzuwendende Ausschlusskriterien. Als „nicht nachhaltig“ sollten demnach „insbesondere“ Techniken und Tätigkeiten gelten, „wenn die langfristige Müllentsorgung zu materiellen und langfristigen Risiken für die Umwelt führen kann“. Grüne werteten das als De-facto-Ausschluss für Atomkraft.
Doch die französische Regierung erhob abermals Einspruch. Die Formulierung musste abgewandelt werden. Als Ausschluss gilt nun nur noch, wenn die langfristige Müllentsorgung „signifikanten und langfristigen Schaden für die Umwelt verursachen kann“.
Grüne feiern dies als rein kosmetische Korrektur, die am De-facto-Ausschluss der Atomkraft nicht ändere. Andere sind da skeptischer. Das europäische Parlament etwa betont in seiner Mitteilung, Atomkraft sei „nicht ausdrücklich (…) ausgenommen“. Und der Vorsitzende des Umweltausschusses, ein Liberaler, der an den Verhandlungen maßgeblich beteiligt war, sagt, dass beide Lager „die Sache verschoben“ hätten. Die Formulierung ermögliche nach wie vor eine Hintertür, um Atomkraft doch noch zur „nachhaltigen“ Geldanlage zu erklären.
Der ausgehandelte Formulierungsvorschlag muss nun noch von den beiden beteiligten Ausschüssen, dem Plenum des EU-Parlaments sowie dem Rat (den Regierungschef*innen der EU-Länder) gebilligt werden, die EU-Kommission dann noch Kriterien für „eingeschränkt nachhaltig“ festlegen. Der Streit um die Stellung der Atomkraft wird also vermutlich noch weitergehen.
Kreditvergabe-Richtlinie der Europäischen Investitionsbank
Bei den Kreditvergabe-Richtlinien der Europäischen Investitionsbank (EIB) war das Atom-Thema ebenfalls auf dem Tisch. Auch hier drängte Frankreich darauf, Kredite für Atomprojekte weiter zu erlauben. Deutschland lehnte das zwar inhaltlich ab, wollte aber, dass die EIB noch bestimmte Gas-Projekte finanzieren würde, was nicht zum diskutierten kompletten Rückzug aus allen fossilen Energien passte. Der Kompromiss am Ende gab beiden, was sie wollten: Einige Gasprojekte sind noch möglich, dafür bleiben auch Atomkredite erlaubt, sogar für AKW-Neubauten.
Green New Deal
Fördermilliarden für Atomkraft gar drohen sogar über den „Green Deal“, den die EU-Kommission angekündigt hat, um Europa klimafreundlich zu machen. Ein „Just Transition Fonds“ soll Klimaschutzmaßnahmen finanzieren helfen. Auch hier versuchen die Atom-Fans, die Atomkraft mit ins Boot zu holen und so Steuergeld für neue AKW zu ermöglichen. Das EU-Parlament wiederum unterstützte in einer Entschließung Mitte Januar den Green Deal an sich. Zwei Anträge, die der Atomkraft in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zusprechen wollten, lehnte es mehrheitlich ab. Das Votum des Parlaments ist allerdings rechtlich nicht bindend. Mitte Januar verkündete die EU-Kommissarin für Regionalpolitik, Elisa Ferreira, schließlich: „Atomkraft ist vom ‚Just Transition‘-Mechanismus ausgeschlossen.”
Reform des Euratom-Vertrags
Unklar ist, ob und wann die von der letzten EU-Kommission in einem Papier in Aussicht gestellte Expertengruppe eingesetzt wird, die sich mit möglichen Änderungen am Euratom-Vertrag befassen soll. Dieser hat bisher die Förderung der Atomindustrie zum Ziel und ermöglicht unter anderem Subventionen für AKW, die aus wettbewerbsrechtlichen Gründen in der EU eigentlich verboten sind.
Schneller könnte eine Reform in Gang kommen, wenn ausreichend viele EU-Staaten eine Vertragsstaatenkonferenz fordern. Die Bundesregierung hat eine Anpassung des Euratom-Vertrages zwar im Koalitionsvertrag vereinbart, das für Euratom zuständige Wirtschaftsministerium bisher allerdings keinerlei Initiative in diese Richtung entwickelt. Hilfe könnte nun aus Österreich kommen: Die im Januar vereidigte neue türkis-grüne Regierung hat eine Reform des Euratom-Vertrages nämlich ebenfalls in ihrem Koalitionsprogramm stehen.
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