Russische Expansionspläne – oder: der totalitäre Weg in den Atom-Club
Kein anderes Land bekam 1986 mehr vom Fallout ab: Der Super-GAU von Tschernobyl, gleich hinter der Grenze, stoppte zunächst auch die weißrussischen AKW-Pläne. Doch schon wenige Jahre später setzte die Regierung erneut auf Atomkraft. Das Parlament intervenierte 1998 und beschloss ein Moratorium. Das hinderte Diktator Lukaschenko allerdings nicht, in den Jahren 2005 bis 2008 die Entscheidungen zum Bau zweier 1.000-Megawatt-Reaktoren in der Nähe der Stadt Astrawez unweit der litauischen Grenze zu treffen – ohne Rücksicht auf die Meinung der Bürger*innen, auf internationale Verfahren und eben auf nationales Recht.
Eine wirtschaftliche Begründung für das AKW-Projekt ist schwer zu finden. Unterlagen dazu hält die Regierung unter Verschluss. Unabhängige Bewertungen zeigten, dass das AKW für Weißrussland sogar ökonomisch negative Folgen haben würde. Im Zuge der vorgeschriebenen Umweltprüfung 2010 wiesen unabhängige Expert*innen zudem auf die inakzeptablen Umweltrisiken eines solchen Projekts hin. Die Behörden jedoch ignorierten dies und genehmigten den Bau – ohne Ausschreibung und ohne dass es irgendwo einen Referenzreaktor dieses Typs gegeben hätte; beides wäre gesetzlich vorgeschrieben gewesen.
Die Frage ist, was Weißrussland mit seinem kleinen Stromnetz – die Gesamtleistung betrug 2016 etwa zehn Gigawatt – mit einem AKW will, dessen zwei Reaktoren zusammen rund 20 Prozent dieser Kapazitäten entsprechen und das deshalb die Stabilität der Stromversorgung gefährdet. Der russische Politologe Andrey Suzdaltsev nannte 2005 den einzigen politischen Grund dafür: Lukaschenkos (von Russland eifrig beförderter) Glaube, ein AKW würde Weißrussland vor einer Intervention der USA schützen und so seine Macht bewahren.
Souveränität des Landes auf dem Spiel
Doch die atomaren Risiken beschränken sich nicht auf Wirtschaft und Energieversorgung. Die Reaktoren, die nach den russischen Vor-Fukushima-Standards konzipiert wurden, weisen eine ganze Reihe von Mängeln auf, wie 2019 das europäische Peer-Review der Stresstests zeigte. Der Europäischen Arbeitsgruppe für nukleare Sicherheit (ENSREG) zufolge entspricht das Astrawez-Projekt nicht einmal den aktuellen Sicherheitsempfehlungen der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO und der WENRA, dem Zusammenschluss der westeuropäischen Atomaufsichtsbehörden. Darüber hinaus haben EU-Expert*innen noch Fragen zur Erdbebensicherheit des Standorts selbst und zu wichtigen Systemen des AKW.
Die Art und Weise, in der die russische Atomindustrie und die totalitäre weißrussische Regierung das Projekt durchgezogen haben, hat bereits zu einer beispiellosen Zahl von Unfällen geführt und der „Belarus Anti-Nuclear Campaign“ (BANC) zufolge die Sicherheitsrisiken des Reaktors weiter erhöht. Seit 2009 sind mehr als ein Dutzend Arbeiter auf der Baustelle zu Tode gekommen. Im Sommer 2016 ließ das mit dem Bau betraute russische Bauunternehmen Sesame, ein Subunternehmer des staatlichen Atomkonzerns Rosatom, den für Block 1 bestimmten mehrere hundert Tonnen schweren Reaktordruckbehälter aus einer Höhe von vier Metern herunterfallen. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste er zwar durch einen neuen ersetzt werden, was eine mehrmonatige Verzögerung bedeutete. Doch auch der neue Koloss erreichte die Baustelle nicht ohne Zwischenfall: An einem Bahnhof rammte er mit einem seiner Rohrstutzen gegen einen großen Betonmast. Auch was mit den abgebrannten Brennstäben einmal passieren soll, ist unklar: Es gibt nicht einmal ein Zwischenlager dafür.
Öffentlichkeit und Nachbarländer schlagen Alarm
Öffentliche Proteste gegen den Bau des AKW gibt es seit 2008. Damals gründeten Umweltorganisationen, politische Parteien und Wissenschaftler*innen die BANC. Lukaschenko bezeichnete die Atomkraftgegner*innen, Wissenschaftler*innen eingeschlossen, als „echte Feinde des Volkes“ und ließ sie unterdrücken und verfolgen, wie etwa die Organe der Aarhus-Konvention in einer Entscheidung von 2017 feststellten.
Besorgt ist auch das Nachbarland Litauen: Im Falle eines schweren Unfalls müssten alle staatlichen Einrichtungen und alle Einwohner*innen der Hauptstadt Vilnius, die nur 50 Kilometer von Astrawez entfernt liegt, evakuiert werden. 2017 verabschiedete Litauen deshalb ein Gesetz, das den Strommarkt für weißrussischen Atomstrom sperrt. Für das AKW-Projekt ist das ein schwerer Schlag, denn in Weißrussland selbst ist gar kein Bedarf für den Atomstrom vorhanden.
Ein politisches Motiv hingegen bleibt: Die Atomtechnologie, die russischen Kredite dafür und die Abhängigkeit beim Atommüll stärken den Einfluss von Putin auf Weißrussland und sein Bestreben, aus beiden Ländern „einen Staat“ zu formen.
Dieser Text ist ursprünglich erschienen im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 46 (Januar 2020)