Über drei Jahrzehnte nach dem Super-Gau im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl sind Pilze und Wildschweine immer noch radioaktiv belastet. In Bayern wurden nun Pilze verkauft, deren Strahlung die geltenden Grenzwerte massiv überschreitet.
Am 26. April 1986 explodierte Reaktorblock 4 des ukrainischen AKW Tschernobyl. Große Flächen wurden von der ausgetretenen Radioaktivität kontaminiert. Wegen der damaligen Wetterlage waren auch Gebiete in Bayern betroffen, zehn Mal heftiger als etwa Norddeutschland. Über dem Bayerischen Wald, im Donaumoos, im Berchtesgadener Land und in der Region Mittenwald gingen wenige Tage nach Beginn der Reaktorkatastrophe Gewitter nieder. Mit dem Regen fiel auch radioaktives Cäsium auf die Waldböden.
Cäsium-137 besitzt eine Halbwertzeit von 30 Jahren, das bedeutet, das heute etwa die Hälfte der Radioaktivität zerfallen ist. Für uns Menschen ist die Anreicherung der radioaktiven Isotope besonders in Pilzen oder Wildschweinen bedenklich - weil wir sie essen. Weil das eine Gefahr darstellt, wurden nach Tschernobyl und Fukushima große Mengen belasteter Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, Milch und Milchprodukte, Blattpflanzen wie Spinat und Kohl sowie Pilze, Meerestiere und -pflanzen aus dem Verkehr gezogen und vernichtet.
Körper verwechselt Kalium
Der menschliche Körper verwechselt Cäsium mit Kalium, nimmt es über die Nahrung auf, lagert es über den Magen-Darm-Trakt ein und kann es nicht wieder ausscheiden. Vor allem in Muskel-, Nieren-, Leber- und Knochenzellen, aber auch im Blut reichert sich Cäsium an. Beim Zerfall entstehen sowohl Beta- als auch die alles durchdringenden Gammastrahler. Der Energiehaushalt, der Stoffwechsel und die DNA der Zellen werden angegriffen. Krebs kann die Folge sein, der bei Erwachsenen teilweise erst Jahrzehnte später ausbricht.
Auf der Grundlage der Bestimmungen der Strahlenschutzverordnung von 1976 haben Experten dazu geraten, Nahrung mit höchstens 30 bis 50 Becquerel pro Kilogramm Cäsium-Gesamtaktivität für Erwachsene und mit höchstens 10 bis 20 Becquerel pro Kilogramm für Kinder, Stillende und Schwangere zu sich zu nehmen.
Der derzeit gültige EU-weite Grenzwert liegt allerdings bei 600 Becquerel pro Kilogramm, für Milch und Säuglingsnahrung bei 370 Becquerel pro Kilogramm. Für Importe aus Japan sind maximal 100 Becquerel pro Kilogramm zulässig, eine Reaktion auf den GAU von Fukushima.
Interaktive Landkarte verrät Hotspots
Das Umweltinstitut München bietet nuklidspezifische gammaspektroskopische Messungen von künstlicher Radioaktivität in Lebensmitteln oder anderen Umweltproben an. Die Ergebnisse werden anonymisiert auf einer interaktive Landkarte dargestellt, unterschieden wird zwischen Pilzen bzw. Waldprodukten und Wildschweinfleisch.
So wird sichtbar, dass auch über 30 Jahre nach Tschernobyl einzelne Wildpilzarten in Bayern massiv mit radioaktivem Cäsium belastet sind. Dazu zählen laut Bundesamt für Strahlenschutz etwa Schnecklinge und Maronenröhrlinge.
- In den vorliegenden Daten zu Wildschweinen sind Spitzenwerte von 27.000 Bq/kg gefunden worden. In der interaktiven Karte sind viele Werte mit 10.000 Bq/kg angegeben, da der Messbereich der eingesetzten Messgeräte nur bis 10 000 Bq/kg reicht. - zur Karte Wildschwein-Messungen
- In den vorliegenden Daten zu Pilzen sind Spitzenwerte von über 3.000 Bq/kg gemessen worden. - zur Karte Pilze und Waldprodukte
Der Verzehr von 6 Kilogramm Fleisch mit 3.000 Bq/kg Caesium-137 führt zu einer zusätzlichen Strahlendosis von 240 Mikrosievert - was 12 Röntgenaufnahmen der Lunge entspricht. Ein unterschätztes Risiko, pro Jahr werden vermutlich über 10.000 Wildschweine allein in Bayern ohne vorherige Messung verzehrt.
„Die veröffentlichten Daten legen nahe, dass die jährliche Strahlendosis bei Extremverzehrern, wie etwa Jägerfamilien deutlich höher liegen könnte“, warnt das Umweltinstitut.
Grenzwertüberschreitung bei Pilzen aus Weissrussland
Banz besonders vom Fallout in Tschernobyl war das Nachbarland Weissrussland betroffen, in dem etwa 70 Prozent der ausgetretenen Radioaktivität niederging. Große Flächen wurden damals evakuiert. Weil die Regierung die Gefahren heute herunterspielt, seien durch kontaminierte Lebensmittel inzwischen viele Weißrussen belastet, sagt der ukrainische Nuklearmediziner Juri Bandaschewskij.
Auch bei den Exportkontrollen nehmen es weder die EU noch Weissrussland offensichtlich sehr genau. In einem Münchener Supermarkt wurden kürzlich Import-Pfifferlingen aus Weißrussland gefunden, in denen das Umweltinstitut eine erhöhte Radioaktivität von 866 Becquerel pro Kilogramm Cäsium-137 gemessen hat. Nachdem der Fall publik gemacht und die Händler konfrontiert wurden, war es zum Handeln zu spät: Pilze der vermutlich stark belasteten Charge waren ausverkauft. Zum Vergleich: Nach der Katastrophe von Fukushima wurde in Tokio Kohl mit einer Belastung von 890 Becquerel vernichtet.
„Wir fordern die Behörden dazu auf, wirksame Radioaktivitätskontrollen durchzuführen“, so Hauke Doerk vom Umweltinstitut München.
Ob weitere rechtliche Schritte gegen Händler*innen, die die belasteten Pilze in Umlauf brachten, eingeleitet werden, hänge nun von Untersuchungsergebnissen des Bayerischen Landesamt für Umwelt ab, so Doerk. Die Behörde habe Alternativproben aus anderen Chargen herangezogen, verweigere aber, das belastete Material selbst zu untersuchen.
Grundsätzlich gibt das Umweltinstitut zu bedenken, dass es keine Grenze gibt, unterhalb derer Radioaktivität ungefährlich ist. Deshalb gilt das Minimierungsgebot: So wenig Radioaktivität wie möglich aufnehmen!
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Quellen (Auszug): energiezukunft.eu, n-tv.de, umweltinstitut.org, spiegel.de