„Keine Angst vor Atomkraft“ versus 190 Millionen Jodtabletten

22.08.2019 | Jan Becker

Derzeit gibt es massive Stimmen, die versuchen, ein Comeback der Atomenergie für den Klimaschutz herbeizureden. Auf der anderen Seite bestellt nun das Bundesamt für Strahlenschutz eine gigantische Menge Jodtabletten – auf Anraten von Expert*innen bereitet sich Deutschland auf einen schweren Reaktorunfall vor.

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„Über die Frage einer möglichen Kernkraft-Nutzung diskutieren wir in der AfD sehr intensiv“, sagte der energiepolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Steffen Kotré, kürzlich der „Welt“. Nicht mal Neubauten werden ausgeschlossen, im derzeitigen sächsischen Landtagswahlkampf brachte die AfD den Standort Lausitz ins Gespräch für ein AKW.

Diese Haltung unterstreicht aktuell WELT-Redakteur Michael Pilz, der unter der Überschrift „Keine Angst vor der Atomenergie“ einerseits ein flammendes Plädoyer für ein Comeback hält, andererseits aber fordert, die Atomenergie „nicht dem rechten Rand“ zu überlassen. Schließlich handle es sich um die „einzige Alternative zu fossilen Brennstoffen“.

Das ist der falsche Weg

Mit Atomkraft kann das Klima nicht geschützt werden, der dafür nötige Ausbau dauert viel zu lange und ist im Vergleich zu Alternativen viel zu teuer. Wird der gesamte Produktionsprozess des Brennstoffs Uran betrachtet, entsteht sehr wohl Co2, die Klimabilanz der Atommülllagerung in den kommenden Jahrhunderten lässt sich sehr schlecht prognostizieren.

Dass „Angst“ (besser nennen wir es „berechtigte Kritik, Zweifel an der offiziellen Risikodarstellung, gute Gründe für Alternativen“) vor der Atomenergie richtig ist, unterstrich kürzlich das Bundesamt für Strahlenschutz. Auf Empfehlung der Strahlenschutzkommission (SSK) wurden 190 Millionen Jodtabletten bestellt. Noch nie hat sich Deutschland so konkret auf einen schweren Unfall in einem Atomkraftwerk vorbereitet wie derzeit, urteilen die atomkritischen Ärzt*innen vom IPPNW.

Grundlage für diesen größten Einzelauftrag in der Geschichte des österreichischen Pharmakonzerns Gerot Lannach sind Einschätzungen der SSK nach der Katastrophe von Fukushima: Man müsse künftig offiziell auch in Deutschland oder einem Nachbarland mit Reaktorunfällen der Stufe INES 7 rechnen, deren radioaktive Freisetzung mehrere Tage andauern kann. Unter Umständen können dabei die Windrichtungen wechseln und viel mehr Gebiete betroffen sein, als das nach einer eintägigen Freisetzung der Fall wäre, unterstreicht der Essener Strahlenbiologe und ehemalige SSK-Vorsitzende Wolfgang Müller gegenüber des WDR.

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Nach dem GAU von Fukushima wurden die Notfallzonen rund um die Atomkraftwerke erheblich vergrößert, als „Fernzone“, in der alle Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schwangere mit Jodtabletten versorgt werden müssen, gilt seitdem das gesamte Gebiet der Bundesrepublik. Deshalb die Großbestellung.

Dadurch würde weder „Angst“ noch „Panikmache“ geschürt, so Müller: Sollte doch etwas passieren und man sei „nicht vorbereitet“, wäre das „sicher eine schlimme Geschichte“. Er sieht eher „sehr viel Verständnis dafür, dass man gut vorbereitet sein soll“. Denn auch wenn die letzten deutschen Meiler Ende 2022 vom Netz gehen, bleiben uns zahlreiche alte Reaktoren unweit der Grenzen wohl erhalten. Deren Zustand, so Müller, würde „laut Einschätzung von Fachleuten mit zunehmendem Alter immer schlechter“.

Mit Sarkasmus reagiert die AG Schacht Konrad auf die Tabletten-Großbestellung: „Wozu die Tabletten? Wenn doch alle Atomanlagen in Deutschland, Belgien und anderswo so sicher sind...“

Erinnert werden muss auch daran, dass die Tabletten in der ersten Zeit nach einem GAU verhindern sollen, dass der Körper freigesetzte radioaktive Jod-Isotope aufnimmt. Gegen weitere Strahlenbelastung oder die vielen anderen dann freigesetzten radioaktiven Elemente schützen die Tabletten nicht. Tatsächlich wirkungsvoll ist nur die sofortige Stilllegung aller AKW.

Technologie ist „ausgemustert“

Dass sowohl die „WELT“ als auch die AfD auf dem Holzweg sind, bekräftigen auch andere Expert*innen. Das Weltwirtschaftsforum (WEF) bat eine Gruppe internationaler Technologieexperten, die diesjährigen Top 10 der „aufstrebenden Technologien“ zu benennen. Darunter würden auch „Sichere Kernreaktoren“ fallen, heißt es. Diese Technik würde aber nicht für Deutschland relevant sein, wie in anderen Länder sei Atomkraft hier „ausgemustert“, in den USA immerhin „zum Stillstand gekommen“.

weiterlesen:

  • Atomstrom ist kein Klimaretter
    Too dirty, too dangerous, too expensive, too slow – darum kann Atomkraft das Klima nicht retten. Der einzige Weg, die Einflüsse des Energieverbrauchs auf die globale Erwärmung zu stoppen: so schnell wie möglich zu den Erneuerbaren Energien wechseln!

  • „Eine irre kostspielige Technologie“
    08.08.2019 - Eine aktuelle Berechung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die absolute Bankrott-Erklärung für alle Atomkraftwerke. Die Meiler dienen weder dem Klimaschutz, noch laufen sie, um Energie herzustellen.

  • Atomkraft? Nicht schon wieder!
    06.06.2019 - Seit einigen Monaten erleben wir, dass die Atom-Fans angesichts der Klima-Debatte Morgenluft wittern. Zwar sind Atomkraftwerke denkbar ungeeignet für den nötigen radikalen Umbau des Energiesystems. Aber das scheint die Pro-Atom-Fraktion nicht zu stören.

  • Studie: Alte Meiler bedrohen Millionen Menschen
    22.05.2019 - Seit einem halben Jahrhundert ist das Atomkraftwerk Beznau-1 schon in Betrieb. Sollte sich in einem der schweizerischen AKW ein großer Unfall ereignen, wären in Europa mehr als hunderttausend Strahlenopfer zu erwarten.

Quellen (Auszug): deutschlandfunkkultur.de, tagesschau.de, wdr.de, welt.de, wallstreet-online.de, innovationorigins.com, ippnw.de

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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