Bei der Explosion einer Rakete auf einem Testgelände in Nordrussland ist radioaktive Strahlung freigesetzt worden. Wichtige Details zum Unfall geben die Behörden allerdings nicht bekannt. Es handelt sich damit schon wieder um einen Atomunfall, zu dem Russland weitgehend schweigt.
Das „Mini-Tschernobyl“, so beschreiben es Medien, habe sich am Donnerstag vergangener Woche (8. August) auf einer Plattform im Meer auf dem militärischen Testgelände bei Njonoksa, rund 30 Kilometer entfernt von der Stadt Sewerodwinsk mit knapp 200.000 Einwohnern, ereignet. Medienaufnahmen zeigen eine gewaltige Detonation und schwarze Rauchsäulen. Dem staatlichen Atomkonzern Rosatom zufolge sei ein Raketentriebwerk explodiert, Treibstoff in Brand geraten. Der russische Wetterdienst Rosgidromet spricht allerdings von radioaktiver Freisetzung, die über zwei Stunden mit 1,78 Mikrosievert pro Stunde 16-fach höher war als normal. Radioaktive Strahlung bestätigten auch die Behörden in Sewerodwinsk, doch die Informationen wurde später auf deren Webseite gelöscht.
Einige Tage nach dem Unglück sind Details darüber, was genau geschah, spärlich. Die Behörden räumten am Wochenende ein, dass es sich um ein Unglück mit „atomarem Charakter” handle. Fünf Menschen seien gestorben. Medien berichten von Verletzten, die in Spezialkliniken für Strahlenopfer behandelt würden. Menschen in der Region hätten sich mit Jod-Tabletten versorgt, in Videos sind kilometerlange Staus auf Straßen zu sehen. Offiziell empfahlen Behörden den 450 Bewohner*innen des Dorfes Njonoksa, ab Mittwoch für „erforderliche Maßnahmen des Militärs“ ihren Wohnort zu verlassen. Später folgte ein Dementi, die Bewohner*innen könnten bleiben, die Strahlungswerte seien normal.
International sind Expert*innen besorgt. Unklar ist zum Beispiel, welche radioaktiven Stoffe freigesetzt wurden, bemängelt Greenpeace. Die Stadt am Weißen Meer ist militärisches Sperrgebiet, u.a. werden hier Atom-U-Boote gebaut. Auch soll in der Basis an „neuen Waffen“ gearbeitet werden. US-Expert*innen vermuten, dass eine atomar betriebene Rakete vom Typ 9M730 Burewestnik im Zentrum des Atomunfalls stehen könnte.
Offizielle Stellen lügen
Vladimir Sliwjak von der russische Umweltschutzorganisation Ecodefence hat „große Zweifel“ am Wahrheitsgehalt der offiziellen Meldungen. Eine Plattform im Meer sei beispielsweise auf Videoaufnahmen eines lokalen Fernsehsenders, die die Explosion zeigen soll, nicht zu sehen. „Das sei auch nur das offizielle Statement“, so Sliwjak. Das Verteidigungsministerium und Rosatom müssten „aufhören zu lügen“und „endlich die Wahrheit preisgeben“.
Die Bevölkerung im Nordwesten Russlands sei es „gewohnt, beim Thema Radioaktivität im Unklaren gelassen zu werden“, sagt Jurij Ivanov, Umweltaktivist in der Region Murmansk. Weil die staatlichen Stellen Informationen immer wieder verschweigen, habe die Bevölkerung eigene Messgeräte für Radioaktivität, die „gehören hier zum Haushalt wie anderswo die Bohrmaschine“, schreibt die Tagesschau.
Zweiter Atomunfall in kurzer Zeit
Kürzlich hatten Wissenschaftler*innen anhand umfangreicher Recherchen bewiesen, dass sich im September 2017 ein schwerer Unfall in der russischen Wiederaufarbeitungsanlage Majak ereignet haben muss. Eine radioaktive Wolke aus Ruthenium zog über Europa und viele andere Länder, überall war erhöhte Strahlung messbar. Experten sprechen von der „gravierendsten Freisetzung seit Fukushima“. Doch Russland hat bisher die Verantwortung für diesen „beträchtlichen nuklearen Zwischenfall“ nicht übernommen.
Sewodwinsk sei nach der Rutheniumwolke ein weiterer Beweis dafür, dass Russland „bei nuklearen oder anderen gefährlichen Unfällen kein Verantwortungsbewusstsein zeigt”, urteilt die ehemalige Europaabgeordnete der Grünen, Rebecca Harms.
Atomkraftgegner*innen in Gefahr
Wer in Russland Kritik am staatlichen Atomprogramm übt, der verliert in der Regel nicht nur seinen Job. Nachdem Ecodefense unter anderem den Bau von Atomkraftwerken verhindert hat, steht die NGO unter massivem Druck durch die Regierung. Alexandra Korolewa, Direktorin und Mitbegründerin der Organisation, wird mit einer „neuen Dimension der Repressionen“ gedroht: Für ihr Umweltschutz-Engagement soll sie 30.000 Euro Strafe zahlen oder bis zu zwei Jahre in Haft gehen. Im Juni beantragte sie deshalb in Deutschland politisches Asyl.
weiterlesen:
-
„Gravierendste Freisetzung seit Fukushima“
05.08.2019 - Im September 2017 war über Europa eine erhöhte Ruthenium-106-Konzentration gemessen worden. Ein internationales Expertenteam hat hunderte Messdaten zusammengetragen, die eindeutige Hinweise auf einen „beträchtlichen nuklearen Zwischenfall“ in der russischen Wiederaufarbeitunganlage Majak geben. Russland bestreitet den Störfall weiterhin. -
Russische Aktivistin beantragt „politisches Asyl“
22.06.2019 - Nachdem die russische Umweltschutzorganisation Ecodefense unter anderem den Bau von Atomkraftwerken verhindert hat, steht sie unter massivem Druck durch die Regierung. Nun hat eine prominente Umweltschützerin in Deutschland politisches Asyl beantragt. -
Kein „AKW-Boom“: ROSATOM schönt seine Zahlen
11.03.2019 - Keineswegs erleben wir acht Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima eine Renaissance der Atomkraft. Es gibt keinen „Exportboom“ des russischen Atomkonzerns ROSATOM, weiß die Umweltschutzorganisation „Ecodefense“.
Quellen (Auszug): dpa, tagesschau.de, tagesspiegel.de, greenpeace.de, wikipedia.org, watson.ch