Weniger ist mehr – beim Abriss von AKW ist das mitunter wörtlich zu nehmen. Die Verunreinigung angrenzender Flüsse mit radioaktiven Stoffen wird voraussichtlich zunehmen. Ein Grund dafür ist die Praxis des „Freimessens“ von Atommüll
Mit dem Abschalten der Atomkraftwerke sollte die radioaktive Belastung für die Bevölkerung an den betroffenen Standorten abnehmen; schließlich entfallen die betrieblichen Emissionen. Beim AKW-Abriss müssen Anwohner*innen jedoch mit einer Zunahme der Strahlenbelastung rechnen. Wenn die Betreiber die Stilllegung ihrer Atomanlagen in der Weise durchführen, wie sie es geplant und politisch ausgehandelt haben, sind die zu erwartenden Emissionen höher als während des Leistungsbetriebs. Unter anderem wollen die Kraftwerksbetreiber beim Abriss neben den Einleitungen von Kühlwasser auch größere Mengen radioaktiver Abwässer in die Flüsse kippen. Dies geschieht insbesondere vor dem Hintergrund umfangreicher Dekontaminationen, bei denen große Mengen Wasser eingesetzt und radioaktiv verunreinigt werden.
Ein Großteil dieser Arbeiten wäre allerdings vermeidbar. Sie dienen allein dem Zweck, radioaktives Material unterhalb festgelegter Becquerelwerte zu bringen. Sodann kann es wie einfacher Hausmüll über die normale Abfallwirtschaft „entsorgt“ werden. Diese Regelung haben die Atomkonzerne im Rahmen des Atomausstiegsbeschlusses 2001 mit der damaligen rot-grünen Bundesregierung vereinbart – es galt, die Menge an Müll, der als Atommüll kostspielig entsorgt werden muss, zu reduzieren und den Atomkonzernen auf diese Weise immense Kosten zu ersparen.
Freigabe: Vom Happen zum radioaktiven Häppchen
Wenn der AKW-Abrisstrupp anrückt, gehört es auch zu seinen Aufgaben, radioaktives Material im großen Stil zu zerlegen und mechanisch oder chemisch zu behandeln. Fräsen, Ätzen, Schrubben, Sandstrahlen gehört zur Arbeitsplatzbeschreibung der Zerlege- und „Reinigungsmaschinerie“. Dabei werden große Wassermengen eingesetzt, die – weil die verwendeten Filter nur einen Teil der Radioaktivität zurückhalten – am Ende kontaminiert in fließendes Gewässer abgeleitet werden.
Durch die Zerlege- und Dekontaminierungsarbeiten wird die Radioaktivität insgesamt nicht weniger. Sie wird lediglich neu verteilt: Von dem großen „Happen“ werden möglichst viele nur schwach strahlende „Häppchen“ abgetrennt. Liegt deren Strahlenbelastung bei den vom AKW-Betreiber selbst vorgenommenen Messungen jeweils unterhalb bestimmter Grenzwerte, gelten sie als „freigemessen“, das heißt als normaler Müll, der im Recycling, in Müllverbrennungsanlagen oder auf normalen Deponien landet. Da es beim Abriss der Atomkraftwerke deutschlandweit um mehrere Millio-nen Tonnen geht, ist die Menge radioaktiver Stoffe, die auf diese Weise in die Umwelt oder den Wirtschaftskreislauf gerät, insgesamt relativ hoch – kostengünstiger ist die „Entsorgung“ von Atommüll nicht zu machen.
Den Preis dafür zahlt die Bevölkerung mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko und einer zunehmend radioaktiv verschmutzten Umwelt. Dazu zählen auch die durch die vermeidbaren Dekontaminierungen verursachten Gewässerverunreinigungen. Laxe Genehmigungen tragen dazu bei, dass die Atomkonzerne nicht einmal Bereitschaft zeigen, zusätzliches Geld in die Verbesserung der Filteranlagen zu stecken.
Beispiel AKW Brunsbüttel
Im Dezember 2018 erhielt Vattenfall nach sechsjähriger Prüfung die Abrissgenehmigung für das Atomkraftwerk Brunsbüttel in Schleswig-Holstein. Darin ist auch die wasserrechtliche Erlaubnis zur Einleitung von Kühl- und Abwasser in die Elbe enthalten. Vattenfall hatte für den Abriss die gleichen Emissionswerte beantragt, die das AKW im laufenden Betrieb hätte abgeben dürfen : 185 Milliarden Becquerel an radioaktiven Stoffen – inklusive Plutonium – pro Jahr. Obwohl Vattenfall diese Werte im Leistungsbetrieb nach offiziellen Angaben nur zu 0,1 Prozent ausgeschöpft hatte, stimmte die Atomaufsicht den für den Abriss beantragten hohen Einleitwerten abermals zu. Der Konzern hätte so 1.000-mal mehr Radioaktivität in die Elbe leiten können als er es während des Betriebs des AKWs getan hat.
Das brachte Anti-Atom-Initiativen auf beiden Seiten der Elbe auf die Barrikaden. Um Cuxhaven schlossen sich Bürgerinnen und Bürger zu einem Aktionsbündnis zusammen, um gegen die Elbverseuchung vorzugehen. Der BUND Landesverband Schleswig-Holstein drohte mit Klagen.
Die schleswig-holsteinische Atomaufsicht initiierte daraufhin einen gemeinsamen Termin mit Vertreter*innen der Initiativen, des BUND und Vattenfalls im Mai. Im Zuge dieser Sitzung stimmte Vattenfall einer erheblichen Reduzierung der genehmigten Emissionswerte zu. Daraufhin verzichtete der BUND auf rechtliche Schritte.
Im Ergebnis darf Vattenfall künftig maximal 2,7 Prozent der ursprünglich genehmigten Strahlungsmenge ins Wasser leiten. Für Tritium gilt allerdings ein gesonderter Wert, der nicht reduziert wird. Die Einigung ist einerseits ein Erfolg, weil sie für mehr Sicherheit sorgt und zudem auch die Debatte um die Einleitungsgenehmigungen an anderen AKW-Standorten befördern könnte. Andererseits ändert es nichts daran, dass die Emissionen im Vergleich zum Leistungsbetrieb real immer noch fast um das 30-Fache zunehmen können – und das wohl auch werden. Vattenfall-Sprecherin Meyer-Bukow zufolge kommt der neu verhandelte Grenzwert von rund 5 Milliarden Becquerel pro Jahr dem tatsächlich zu erwartenden Wert jedenfalls jetzt sehr nahe. Dagegen hatte der Leiter der Atomaufsicht im Kieler Umweltministerium, Jan Backmann, die Öffentlichkeit noch im Januar beruhigt: „Wir rechnen damit, dass die Größenordnung maximal so bleibt wie im Leistungsbetrieb. Würde sie höher werden, würden wir aufsichtlich eingreifen.“ Es stellt sich die Frage, warum die Kieler Atomaufsicht höhere Emissionswerte genehmigt, als sie vorgibt tolerieren zu wollen. Vattenfall plant jedenfalls nicht, in eine Verbesserung der Filtertechnik zu investieren.
Vom „Freimessen“ und dem damit verbundenen „Dekontaminationsmarathon“ wollen derzeit weder Staat noch Betreiber abrücken und obwohl die genehmigten Emissionswerte nach der Intervention des Aktionsbündnisses nun deutlich reduziert wurden, wird die reale radioaktive Belastung der Elbe wohl trotzdem steigen. Entsprechend haben die Anti-Atom-Gruppen ihren Widerstand trotz des Etappensiegs nicht aufgegeben. So kündigt Karsten Hinrichsen von „Brokdorf akut“ an: „Dass die erzielte Einigung auf knapp drei Prozent […] für mein physikalisches Verständnis noch immer zu hoch ist, wird Gegenstand der Diskussion bleiben.“ Die Initiativen an der Elbe wollen sich weiterhin für eine Verbesserung der Situation einsetzen. Die Grenzwertsenkung ist für sie nur ein erster Schritt.
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