Immer mehr Mütter und Väter des Verfahrens zur Standortsuche für die dauerhafte Verwahrung von hochradioaktivem Müll äußern sich kritisch. Der Grund: Statt eines tragfähigen Konsenses gibt es nur einen schlechten Kompromiss
Was ist der Unterschied zwischen einem Konsens und einem Kompromiss? Umgangssprachlich – und auch in der Politik – wird beides oft synonym verwendet. Doch das ist ein Trugschluss. Streiten sich zwei um eine Orange, dann ist es ein Kompromiss, die Frucht zu teilen. Beide Seiten haben Vor- und Nachteile. Für einen Konsens dagegen ist es hilfreich, zuerst herauszufinden, welche Interessen die beiden haben. Will beispielsweise der eine die Schale zum Kuchenbacken, die andere den Saft, dann ist ein Konsens möglich, der beide völlig zufriedenstellt.
Im politischen Raum geht es meist um Kompromisse. Doch die werden den unterschiedlichen Interessen oft nicht ausreichend gerecht und können einen Konflikt häufig nicht befrieden. Oft legt der Kompromiss nur die neuen Spielregeln für die weitere Auseinandersetzung fest. So auch beim Ergebnis der Atommüll-Kommission und dem Standortauswahlgesetz (StandAG). Im Bericht der Kommission gibt es beispielsweise zwei parallele Darstellungen zum Standort Gorleben, weil man sich nicht einigen konnte. Auch sind die im Gesetz festgelegten Kriterien für die Standortauswahl so vage formuliert, dass der zukünftig politisch präferierte Standort damit begründet werden kann – ganz egal, ob es nun der am wenigsten schlechte ist, den die Suche vorgibt zu finden, oder nicht.
Trotzdem wird das Suchverfahren für ein tiefengeologisches Atommüll-Lager allenthalben als „Konsens“ bezeichnet, ja gar als „breiter gesellschaftlicher Konsens“, obwohl etwa fast alle mit der Thematik befassten Umweltverbände und Initiativen aus gutem Grund nicht daran mitgearbeitet haben und die Regelung ablehnen.
Inzwischen jedoch beginnt die Erzählung vom stabilen Konsens zu bröckeln. Den ersten Dissens gab es bereits 2016 bei der Schlussabstimmung der Kommission, als der BUND als einziger beteiligter Umweltverband mit „Nein“ stimmte und die Bundesländer Sachsen und Bayern in einem Sondervotum ihre Kritik äußerten. Eine Woche später zog der Bergbauingenieur Wolfram Kudla nach, der zwar dem Abschlussbericht zugestimmt hatte, jetzt aber die vereinbarten Auswahl-Kriterien massiv beanstandete. Schließlich stimmte die Linkspartei im Bundestag gegen das Gesetz. Seither äußern sich immer mehr ehemalige Mitglieder der Kommission kritisch zum Verfahren.
So etwa Jörg Sommer, Direktor des „Berlin Institut für Partizipation“, der in einem auf Telepolis veröffentlichten Streitgespräch die Sinnhaftigkeit der Berufung von sogenannten „Zufallsbürger*innen“ ins Nationale Begleitgremium (NBG) bezweifelt: Er halte ausgeloste Bürger*innen für harmlos, „weil sie überwiegend nicht betroffen sind. Jeder, der mal in einer Bürgerversammlung war, wo es wirklich um etwas ging, was die Leute betroffen hat, weiß: Wo Betroffenheit herrscht, ist es nicht nur angenehm, das kann sogar aggressiv werden. Ich verstehe, dass man das als Politiker nicht unbedingt haben will, da ist der ‚Zufallsbürger‘ dann ein willkommener Weg aus dem Dilemma. Nur: Man beteiligt da die falschen Leute. Wer so Konflikte ignoriert, statt sie zu verhandeln, wird am Ende der Lösung des Konfliktes kein Stück näher kommen. (…) Das hat mit Bürgerbeteiligung nicht wirklich was zu tun.“
Die neue bayerische Staatsregierung aus CSU und Freien Wählern hat in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: „Wir sind überzeugt, dass Bayern kein geeigneter Standort für ein Atomendlager ist.“
Der ehemalige Ko-Vorsitzende der Atommüll-Kommission, Michael Müller, beschrieb auf einer Veranstaltung im Wendland die Arbeit der Runde mit deutlichen Worten: „In der Kommission hat es viel unsauberes Verhalten gegeben.“ Dass Gorleben bei der Standortsuche trotz offensichtlicher Mängel nicht ausgeschlossen wurde: „Ich halte das weder politisch noch wissenschaftlich für das richtige Vorgehen.“ Zur Partizipation: „Ich finde die Art und Weise, wie die Bürgerbeteiligung umgesetzt wird, falsch. Die Rolle von König macht mich skeptisch.“ Gemeint ist Wolfram König, Präsident des Atommüll-Bundesamtes BfE, das die Pseudo-Beteiligung bei der Standortsuche organisiert, und sein Vorgehen gegen Kritiker*innen. Zum Zeitplan: „Der Zeitplan wird nicht eingehalten werden.“ Zu den Institutionen der Suche: „BGE [Bundesgesellschaft für Endlagerung] und BfE kämpfen gegeneinander und gemeinsam gegen das NBG.“ Und: „Ich bin mir nicht sicher, ob die mit sauberen Karten spielen.“
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Entgegen der Mär, der Standort Gorleben werde jetzt auf einer „weißen Landkarte“ so behandelt, wie alle anderen Orte auch, erklärte Robert Habeck von den Grünen, der ebenfalls in der Kommission gesessen hatte, er schätze die Wahrscheinlichkeit, dass der Salzstock im Wendland am Ende ausgewählt werde, auf 50:50.
Auch Bruno Thomauske, Ex-Leiter des Projekts Gorleben und als „unabhängiger Wissenschaftler“ Teil der Atommüll-Kommission, äußerte sich jetzt extrem kritisch zum Suchverfahren. Auf einer Veranstaltung der FU Berlin zum Thema erklärte er den offiziellen Zeitplan für Makulatur: „Das Verfahren wird einige Jahrzehnte länger dauern und der Betrieb eines Endlagers wird frühestens gegen Ende des Jahrhunderts beginnen. Damit startet der Prozess mit einer Anfangslüge und setzt die Glaubwürdigkeit schon vor Beginn des Auswahlverfahrens aufs Spiel.“ Außerdem hält er nichts von dem im Verfahren geplanten Vergleich verschiedener Standorte: „Es gibt bis heute kein Instrumentarium, einen relativ besten Standort objektivierbar – im Sinne von wissenschaftlich nachweisbar – zu identifizieren.“ Wenn an einem ausgewählten Standort die Menschen fragen werden, ob das Ergebnis wissenschaftlich eindeutig sei, müsse man ihnen antworten: „Nein, das ist nicht zu beweisen.“ Probleme sieht Thomauske auch bei der laufenden Sammlung geologischer Daten durch die BGE: „Die geologischen Daten, die da eingesammelt werden, wurden ja nicht erhoben, um ein Endlager zu finden.“ Und weiter: „Der BGE wurden Daten geschickt und sie konnten nichts damit anfangen. So lange sie nicht wissen, was sie mit den Daten anfangen wollen, wissen sie auch nicht, welche Daten sie konkret brauchen.“
Einen weiteren Dämpfer bekam die Erzählung vom „Atommüll-Konsens“ von der Vorsitzenden des Bundestags-Umweltausschusses, Sylvia Kotting-Uhl (Grüne) und von Michael Sailer, Vorsitzender des dem Umweltministerium zuarbeitenden Beratungsgremiums Entsorgungskommission (ESK). Beide plädierten auf einer Tagung in der evangelischen Akademie Loccum im Juni dafür, das StandAG nicht zu novellieren, selbst wenn Schwachstellen oder Verfahrenshindernisse im Gesetz identifiziert würden. Sie begründeten dies mit der Gefahr, dass bei einer Novellierung Begehrlichkeiten von allen Seiten kämen und das Gesetz dadurch deutlich schlechter würde, als es jetzt sei. Auch Mitglieder des NBG teilen diese Position.
Paradox daran ist, dass die Befürworter*innen des StandAG zu dessen Verteidigung immer anführen, dass es einen breit getragenen gesellschaftlichen Konsens dazu gebe, der sich im Gesetz widerspiegle. Mit diesem angeblichen Konsens kann es aber nicht weit her sein, wenn die Beteiligten selbst befürchten, dass ihnen das Ganze um die Ohren fliegt, sollte das Parlament nochmal daran rühren. Und wenn diese Einschätzung stimmt, dass der Konsens zum Standortauswahlverfahren in Wahrheit gar kein belastbarer Konsens ist, sondern nur ein wackeliger Papierkompromiss, dann fährt die begonnene Standortsuche so oder so bald gegen die Wand – spätestens wenn Bundestag und Bundesrat zum ersten Mal zum Zuge kommen: Nach dem Abschluss der ersten Phase des Suchprozesses müssen sie entscheiden, ob sie den Vorschlag der Behörden übernehmen, welche Regionen in die engere Wahl kommen sollen.
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